Ob Vegetarierin, Gourmet oder Fastfoodjunkie, alle Menschen fangen mit der gleichen Kost an: Milch, im besten Fall direkt von der Mutter. lebensmittelmagazin.de hat sich mit Expertinnen über das Stillen unterhalten.
Etwa die Hälfte aller Mütter gab im Rahmen der Studie SuSe II (Studie zum Stillen und Säuglingsernährung in Deutschland) an, in den ersten Wochen nach der Geburt Schwierigkeiten beim Stillen gehabt zu haben. Oftmals meinten sie, dass ihre Milch nicht ausreiche oder das Kind Schwierigkeiten beim Trinken habe. „Das ist teilweise aber auch nachvollziehbar, in unserer Studie verbrachten Mutter und Kind nach der Geburt nur noch durchschnittlich gut drei Tage im Krankenhaus. Vor 20 Jahren waren es noch durchschnittlich fünf Tage“, erklärt die Ernährungswissenschaftlerin Professor Mathilde Kersting vom Forschungsdepartment Kinderernährung der Universitätskinderklinik Bochum. „Während dieses kurzen Aufenthaltes kann sich das Stillen oftmals noch nicht ausreichend etablieren, wenn man beispielsweise bedenkt, dass die erste Muttermilch, die sogenannte Vormilch, in nur kleiner Menge, dafür immunologisch aber sehr wertvoll, produziert wird. Erst nach mehreren Tagen bildet sich die sogenannte transitorische Milch, bevor nach etwa 14 Tagen die reife Muttermilch produziert wird. Aber diese Übergangsphasen sind von Mutter zu Mutter individuell unterschiedlich“.
Muttermilch: Wie maßgeschneidert
Nicht nur der Prozess sei individuell, auch „generell hat sich die Muttermilch über Generationen hinweg auf das neugeborene Wesen maßgeschneidert angepasst“, erklärt die Fachfrau für Säuglingsernährung.
Künstliche Milch könne sich dem nur annähern, trotz der heutigen Möglichkeiten der industriellen Herstellung und fundierter wissenschaftlicher Arbeit zur optimierten Fettzusammenstellung und hinzugefügtem Vitamin- und Mineralstoff-Komplex. Heute können Kinder mit Ersatzmilch gut ernährt werden, können aber die vielen Vorzüge natürlicher Muttermilch nicht erreichen.
Vor Jahrzehnten gab es noch nicht die Forschung auf dem Gebiet, außer der Erkenntnis, dass die Sterblichkeit nicht gestillter Kinder höher lag. „Damals wurde Kuhmilch verdünnt, weil die Zusammensetzung der tierischen Milch sehr viel Eiweiß und Mineralstoffe enthält. Kälber müssen anders als Babys stark und schnell wachsen. Normale Kuhmilch würde die Ausscheidungsorgane der Babys zu sehr belasten. Mit der verdünnten Kuhmilch werde aber auch die fürs Baby wichtigen Fette und Vitamine verdünnt“, erklärt die Professorin.
Die Wissenschaftlerin begrüßt die statistischen Ergebnisse der Studie, die sich mit der Empfehlung decken, nach der die Mehrzahl der Mütter in den ersten vier Lebensmonaten voll Stillen und zwischen dem 5. und 7. Monat mit der Beikost beginnen.
Erfolg durch Nachsorge
Ein Ergebnis der Studie sei, dass die allermeisten Frauen trotz Startschwierigkeiten Stillen können. Selbst nach einem Kaiserschnitt werden die Kinder schnellstmöglich auf den Bauch der Mutter gelegt, um die Brust suchen zu lassen. „Wichtig für den Stillerfolg ist ein stabiles Netzwerk außerhalb des Krankenhauses, seien es Angebote der Kliniken oder Hebammenhilfe, auf die es einen gesetzlichen Anspruch gibt. Es gibt auch Mutter-Kind-Gruppen, wobei dies in Skandinavien üblicher ist. Einer der Prüfpunkte für ein Zertifikat der Stillförderung der Krankenhäuser ist die Unterrichtung der Mütter über die Möglichkeiten der Nachsorge vor Ort. Übrigens gab im Rahmen der Studie die überwiegende Mehrheit der befragten Mütter an, in der Nachsorge gut beraten worden zu sein“, sagt Mathilde Kersting. Auch im Zusammenhang mit COVID-19 weiß die Wissenschaftlerin zu beruhigen und verweist auf die üblichen Hygienemaßnahmen zum Stillen.
„Muttermilch ist immer da, immer temperiert, im Vergleich preiswert, man kann überall Stillen und es ist einfach zu handhaben“, wirbt die Wissenschaftlerin. In der Vergangenheit waren gerade die letzten Punkte häufig gesellschaftliches Thema. „Es wird noch an einer Still-Strategie in Deutschland gearbeitet. Stillen in der Öffentlichkeit muss die allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz bekommen. Mütter sollen Orte kennen, an denen sie bequem stillen können, vielleicht gekennzeichnet mit Schildern an Café-Eingängen“, so die Expertin der Säuglingsernährung.
Aus dem Blick der Hebamme
Denise Finke ist Hebamme in Berlin-Mariendorf. Gegenwärtig betreut sie in Corona-Zeiten acht Familien und 50 schwangere Frauen, jeweils individueller selbstgenähter Mundschutz inklusive. Herausforderungen beim Stillen? „Wenn ich so aufs Jahr schaue, hat vielleicht ein Drittel aller Frauen keine Probleme beim Stillen“, sagt die Hebamme. Schuld daran sind Schmerzen beim Ansaugen, teilweise aber auch während des gesamten Stillvorgangs, wunde Brustwarzen oder auch Produktion der Milchmenge, sowohl zu viel wie auch zu wenig. „Der Prozess zum Stillen kann sich über zwei bis vier Wochen hinwegziehen“, erklärt Denise Finke. Erst mit der Geburt der Plazenta, dem sukzessiven Ausscheiden der Plazenta-Hormone und dem darauf folgenden Anstieg des Prolaktin, das vom Saugen des Kindes angeregt wird, käme der Milchfluss ins Laufen. Das hängt aber auch von der Geburt ab und ist sehr individuell.
Stillen von Natur aus intuitiv
Auf der anderen Seite ist Stillen von Natur aus sehr intuitiv. Diese Intuition wird durch äußeren Druck bedroht, sei es von Angehörigen im Wochenbett, aber auch vom öffentlichen Bild vom Stillen. „Das hängt dann vom Körpergefühl der Frau ab, ob ich mich als Hebamme zurückhalte und der Natur freien Lauf lasse oder es bei einer sorgenvoll verkopften Mutter thematisiere“, erklärte Denise Finke. Dazu gehöre auch die Erfahrung, dass bei ambulanten Geburten die Intuition der Mutter zuhause mit individueller Betreuung schneller einsetze, „als bei längerem Aufenthalt im Krankenhaus mit Schichtwechsel im Pflegepersonal und deswegen alle acht Stunden eine neue Schwester mit neuen Ansichten, was zur Unsicherheit bei der Mutter führen kann“, meint die Hebamme.
Mutter oder Kind?
„Wenn es tatsächlich Schwierigkeiten beim Stillen gibt, muss ich als erstes abklären, auf welcher Seite sie liegen, denn auch jedes Kind ist sehr individuell. Der Prozess zum Stillen ist eine Frage von Angebot und Nachfrage. Deswegen kann es wichtig sein, sich für das Wochenbett ruhig Zeit zu nehmen, bis zu vier Wochen. Gerade Frauen mit Intuitionsschwierigkeiten, weil sie beispielsweise auf sich allein gestellt sind und keine Unterstützung bekommen, empfehle ich Bonding, stundenlangen direkten Hautkontakt. Dabei lernen sie die Signale des Kindes kennen und gerade mit Ruhe und ohne Druck kommt die Hormonproduktion einfacher. Der Saugreflex des Kindes wird angeregt, indem etwas Colostrum, frühe Muttermilch, auf die Brustwarze geschmiert wird und das Kind das erschnüffelt. Sobald das Kind andockt, wird Oxytocin angeregt, welches die Milch fließen lässt“, berichtet Denise Finke. Frauen, die an den Brustwarzen sehr empfindlich sind, können vorab durch verschiedene Reize, beispielsweise manuell oder mit dem Duschstrahl, zur Vorbereitung trainiert werden.
Ist das Kind zu müde zum Trinken, sei es aufgrund der Geburt oder Gelbsucht, stimuliert man es vorab zwischen weichem und hartem Gaumen, auch die Brustwarze kann man dafür vorab stimulieren damit sie größer und länger wird.
Ursachen beim Kind können aber auch Blockaden sein, die durch die Lage in den letzten Schwangerschaftswochen oder des Geburtsmodus, beispielsweise Saugglockengeburt oder Kaiserschnitt, abhängig sein können, hier kann es dann helfen, den Unterkiefer oder die Wangen zu massieren, für alles andere sollte man einen Osteopathen ranlassen.
Alternativen
Wenn das alles nicht hilft, kann man die Brust manuell oder mit der Pumpe entleeren und die aufgefangene Muttermilch per Sonde über ein Milchnahrungsergänzungsset, eine umgeschnallte Flasche auf Brusthöhe mit Schlauch oder per Fingerfeeding, bei dem das Kind am Elternfinger nuckelt und die Sonde dann im Mundwinkel steckt und über eine Spritze bedient wird. „Ein Fläschchen kann zur Saugverwirrung des Babys führen, wenn die Reflexe verfälscht werden, weil Flaschenfütterung weniger Saugarbeit fürs Kind bedeutet. Manche Eltern gehen von vornherein von Stillschwierigkeiten aus und halten Fläschchen und Milchpulver bereit. Davon ist aber abzuraten“, weiß Denise Finke, „Mütter brauchen in dieser Zeit Unterstützung und Mütter müssen stillen wollen.“
Jenseits von Entweder-Oder
Gründe bewusst oder unbewusst gegen das Stillen können bei Müttern beispielsweise sein, die Kontrolle über den eigenen Körper wiederzuerlangen oder auch die Aussicht auf Arbeitsteilung und natürlich der gesellschaftliche Druck.
„Dabei sollte allen Eltern klar gemacht werden, dass es beim Stillen nicht nur ein Entweder-Oder gibt, sondern sehr viele Alternativen. So können beispielsweise abwechselnd Muttermilch und Premilch ans Kind verfüttert werden. Stillen ist eben eine sehr individuelle Angelegenheit“, sagt Hebamme Denise Finke.