Seit Jahrzehnten warnen Ernährungswissenschaftler vor gesättigten Fettsäuren. Doch die These basierte schon immer auf schwachen Belegen – und ist nach neueren Analysen nicht mehr haltbar. Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Nicolai Worm.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen am 6. Februar 2021 in der WELT (Print, S. 20) und am 8. Februar 2021 bei WELT.de.
Menschen sind wie Schweine. Beide sind Allesfresser, Verdauung wie Stoffwechsel funktionieren nahezu identisch. Selbst die Größe der Organe ist vergleichbar, nicht zufällig entwickelt sich das Schwein zum begehrten Ersatzteillager für defekte Menschen. Der Austausch gegen Schweineherzklappen ist bereits Routine, Brandverletzte bekommen Schweinehaut. An der Transplantation von Niere, Lunge, Herz und Leber von Schweinen arbeitet die Forschung mit Hochdruck.
Nur beim Fett hört es auf. Schweinefett gilt als bedenklich, ist geradezu zum Sinnbild ungesunder Ernährung geworden. Generell sollen wir tierisches Fett meiden, da es angeblich überwiegend gesättigte Fettsäuren enthält. Die wiederum, so warnen Ernährungswissenschaftler seit Jahrzehnten, erhöhen die Cholesterinwerte, wodurch wir Atherosklerose entwickeln und frühzeitig an Herz- oder Hirninfarkt versterben.
Nach Jahrzehnten der Ermahnungen haben die meisten Menschen die Lehre vom angeblich ungesunden tierischen Fett verinnerlicht. Was die wenigsten wissen: Die Belege waren schon immer sehr dünn oder beruhten auf methodisch mangelhaften Studien. Langsam beginnt nun ein Umdenken in der Wissenschaft. Noch hält zwar ein großer Teil des Establishments trotzig an der alten Fettthese fest, doch die lässt sich mittlerweile nur noch mit Datentricksereien aufrechterhalten. Zeit, sich die angeblichen Beweise genauer anzusehen.
Es beginnt schon damit, dass Schweinefett überwiegend aus ungesättigten Fettsäuren besteht, nämlich zu 60 Prozent. Das Depotfett des Menschen hat einen etwas höheren Anteil – etwa 70 Prozent, vergleichbar mit dem der Gans. Die Fischfette enthalten noch mehr ungesättigte Fettsäuren, und selbst das festere Fett im Rindersteak enthält noch zu etwa 55 Prozent ungesättigte Fettsäuren. Allein das Milchfett besteht überwiegend, das heißt zu etwa 60 Prozent, aus gesättigten Fettsäuren. Allerdings enthält Milchfett einen hohen Anteil kurz- und mittelkettiger gesättigter Fettsäuren, für die vielerlei biologisch günstige Wirkungen nachgewiesen sind.
Fakt ist aber auch, dass die meisten pflanzlichen Öle oder Fette – ausgenommen Kokos- und Palmkernfett – mehr ungesättigte Fettsäuren enthalten als ihre tierischen Pendants. Und bei drei von ihnen (Ölsäure, Linolsäure, Alpha-Linolensäure) haben Experimente gezeigt: Wenn Menschen vermehrt diese drei Fettsäuren verzehren, dann sinkt bei ihnen der Cholesterinspiegel. Genauer gesagt sinkt die als schädlich geltende Form des LDL- Cholesterins. Umgekehrt können drei der zahlreichen gesättigten Fettsäuren (Laurin-, Myristin- und Palmitinsäure) den LDL-Cholesterinspiegel unter experimentellen Bedingungen steigern.
Da erhöhtes LDL-Cholesterin ein Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist, scheint der Beweis erbracht: Der Verzehr von tierischen Fetten müsste demnach das Risiko für Herzinfarkte erhöhen, und umgekehrt der Verzehr von Ölen und Margarine das Risiko senken. Was dabei selten erwähnt wird: Den LDL steigernden Effekt gesättigter Fettsäuren beobachten Wissenschaftler vor allem in Laborexperimenten, bei denen sie die Nahrung der Menschen mit bestimmten Fettsäuren oder Fetten künstlich anreichern. Unter normalen Lebensbedingungen, wenn Menschen natürliche Lebensmittel essen, ist dieser Zusammenhang zwischen Blutfettwerten und Ernährung viel geringer, manchmal lässt er sich auch gar nicht beobachten.
Beweise? Fehlanzeige
Ohnehin bräuchte man Beweise, dass Fettsäuren nicht nur Blutwerte, sondern tatsächlich Gesundheit und Sterberisiko beeinflussen. In ihren Ursprüngen stützte sich die Fettthese vor allem auf die „Sieben-Länder-Studie“ aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren – da hatte der amerikanische Biochemiker Ancel Keys bei dem Ländervergleich einen scheinbaren Zusammenhang zwischen dem Verzehr gesättigter Fettsäuren und Herzinfarkten aufgezeigt. Die Studie wurde aber vielfach wegen ihrer methodischen Schwächen kritisiert – vor allem spielen in solchen Ländervergleichen unzählige nicht kontrollierbare Einflüsse aus Umwelt, Ernährung, Klima, Genetik und Mentalität hinein. Doch das Interesse in der Ernährungsforschung war geweckt.
In der Forschung gilt: Wenn im Ländervergleich ein höherer Konsum von gesättigten Fettsäuren mit mehr Herzinfarkten korreliert und dieser Zusammenhang ursächlicher Natur ist, muss die gleiche Beziehung auch innerhalb einer Gesellschaft nachweisbar sein, und das bei weniger unterschiedlichen, unkontrollierbaren Einflüssen.
Eben das haben Ernährungswissenschaftler beispielsweise bereits Ende der Sechzigerjahre in der „Mutter aller Beobachtungsstudien“, der Framingham-Studie, versucht. US-Forscher erfassten die Ernährungsgewohnheiten von Männern im Alter von 45 bis 65 Jahren und prüften dann in den folgenden 16 Jahren, wer von ihnen an einem Herzinfarkt verstarb. Doch die Menschen, die mehr Lebensmittel mit gesättigten Fettsäuren aßen, hatten kein erhöhtes Risiko, an einem Herztod zu sterben.
In den folgenden Jahren kamen weitere Langzeitbeobachtungsstudien hinzu, und im Jahr 2010 fasste dann eine US-amerikanische Arbeitsgruppe um den berühmten Fettstoffwechselforscher Ronald Krauss die Daten aller 21 bis dahin verfügbaren Beobachtungsstudien zusammen. Ergebnis: kein erhöhtes Risiko für Herzinfarkt durch gesättigte Fettsäuren und sogar ein gesenktes Risiko für Schlaganfall. Bis zum Jahr 2019 lagen 45 solcher Studien vor, und in der Metaanalyse einer chinesischen Forschergruppe aus der Universität von Zhengzhou wurde wiederum bestätigt: kein Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch vermehrten Konsum gesättigter Fettsäuren.
Allerdings sind solche Beobachtungsstudien ohnehin problematisch, denn sie liefern prinzipiell keinen Beweis für Ursache und Wirkung. Den können nur kontrollierte Diätstudien erbringen, bei denen sich vergleichbare Gruppen von Teilnehmern nach strengen Vorgaben unterschiedlich ernähren.
Ernährung und Beweise
Beobachtungsstudien taugen aus wissenschaftlicher Sicht nicht dazu, um ursächliche Zusammenhänge zwischen Umwelt- beziehungsweise Ernährungsfaktoren und Erkrankun- gen zu beweisen. Sie liefern nur Korrelationen. Ein Beispiel: Man hat beobachtet, dass Schlanke mehr Zucker konsumieren als Übergewichtige. Macht also Zuckerkonsum schlank? Das kann man mit dieser Beobachtung nicht klären. Vielleicht essen Schlanke mehr Zucker, weil sie es sich leisten können und umgekehrt Übergewichtige mit der Hoffnung auf Schlankheit eher auf Zucker verzichten. Außerdem sind Beobachtungsstudien sehr fehler- anfällig, denn die Menschen erinnern sich meist nicht exakt, was sie gegessen haben.
Echte Beweise liefern ausschließlich kontrollierte Diätexperimente (Interventionsstudien). Die Probanden werden dafür nach Zufallsprinzip entweder in eine Gruppe mit der eigentlichen (Diät-) Intervention gelost oder in die Kontrollgruppe (sogenannte Randomisierung). Außer der Ernährungsumstellung, die man prüfen will, sollte sich in der Interventions- gruppe nichts an der sonstigen Ernährung und am Lebensstil ändern. Die Kontrollgruppe bekommt weiterhin ihre gewohnte Ernährung. Streng genommen dürften die Teilnehmer selbst nicht wissen, was sie essen. Entscheidend ist, dass beide Gruppen identisch betreut werden, idealerweise sollten dafür auch Studienleiter und Diagnostiker nicht wissen, wer der Diät- oder der Kontrollgruppe angehört. Da all dies praktisch nicht durchführbar ist, basiert die Ernährungslehre immer noch weitgehend auf „Hinweisen“ und nicht auf echten wissenschaftlichen „Beweisen“.
Schon seit 60 Jahren versucht man, in solchen Interventionsstudien zu beweisen, dass gesättigte Fettsäuren ungesund und pflanzliche Öle und Margarinen vorbeugend gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen wirken. Doch egal, ob die Menschen insgesamt weniger Fett essen, um gesättigte Fettsäuren einzusparen oder eben ersatzweise mehr pflanzliche Mar- garinen und Öle essen, der Beweis will einfach nicht gelingen.
Zahlreiche Metaanalysen dieser Studien haben das inzwischen bestätigt, unter anderem in der Arbeit von Russell de Souza an der kanadischen MacMaster-Universität. Die Datenlage steht somit seit Langem in einem erstaunlichen Gegensatz zur Lehre, findet aber wenig Gehör bei den Verfassern offizieller Ernährungsempfehlungen.
So empfiehlt auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) seit Jahrzehnten unbeeindruckt von den Studienergebnissen, die Zufuhr von gesättigten Fettsäuren auf sieben Prozent bis höchstens zehn Prozent der Gesamtenergiezufuhr zu beschränken. Da die Menschen in Deutschland im Schnitt 15 Prozent ihrer Kalorien daraus beziehen, müssten sie ihre Ernährung eigentlich deutlich umstellen und viele Vorlieben einstellen. Wer so etwas empfiehlt, sollte gute Beweise für einen erkennbaren Nutzen für die Verbraucher vorlegen können.
Datentrickserei
Um diesen angeblichen Nutzen aufzuzeigen, analysierte die britische Ernährungswissenschaftlerin Lee Hooper im letzten Sommer alle relevanten Interventionsstudien im Auftrag der Cochrane Collaboration – der weltweit anerkannten Institution für evidenzbasierte Medizin. Es ist die bislang umfassendste Dokumentation zur Fettthese. Mit ihrem Team bewertete sie 15 Studien, bei denen die Probanden im Schnitt fast fünf Jahre nach Anweisung der Wissenschaftler unterschiedliche Lebensmittel verzehrten. Das Ergebnis: Menschen, die gesättigte Fettsäuren einsparten, erlitten dadurch nicht weniger Herzinfarkte. Und sie starben im Versuchszeitraum auch nicht eher als andere – weder an Herz- oder Hirninfarkten noch an sonstigen Erkrankungen.
Dennoch betonte Lee Hooper in ihrem Fazit die gesunde Wirkung, die ein Verzicht auf gesättigte Fettsäuren mit sich bringe: Um 17 Prozent könne man das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch den Verzicht auf gesättigte Fettsäuren senken. Wie das?
Zu dem für etablierte Ernährungsfachgesellschaften beruhigenden Ergebnis gelangte sie, indem sie die Anzahl aller „kardiovaskulären Ereignisse“ zusammenfasste, darunter neben Herz- und Hirninfarkt auch noch Angina pectoris, Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern und andere. Sie rechnet dabei vor: Um ein einziges der verschiedenen „kardiovaskulären Ereignissen“ zu vermeiden, müssten 56 Menschen vier Jahre lang ihre Ernährung im Sinn der DGE-konformen Fettthese umstellen – also deutlich weniger Käse, Joghurt, Milch, Butter, Fleisch und Fleischwaren essen und dabei nur die fettärmsten Varianten auswählen. Allerdings heißt das auch, dass 55 Menschen ihre Ernährung ohne einen Vorteil umgestellt hätten.
Dieses magere Ergebnis der Hooper-Analyse wird noch magerer, wenn man die aktuelle Fassung der 283 Seiten lange Analyse bis zum Ende studiert. Dann findet man im letzten Teil eine überarbeitete Berechnung, die Hooper nach öffentlicher Kritik an ihrer Arbeit vornahm. Für ihre primäre Analyse hatte sie bis dahin nämlich Studien miteinbezogen, bei der die Probanden nicht nur den Fettkonsum, sondern gleichzeitig auch andere Dinge in ihrer Ernährung umgestellt hatten – es wurde beispielsweise mehr Gemüse oder mehr Nüsse, mehr Fisch oder mehr Ballaststoffe oder weniger Zucker konsumiert.
Als Frau Hooper korrekterweise diese Studien in ihrer Analyse ausschloss, blieben gar keine Effekte einer an gesättigten Fettsäuren armen Ernährung mehr übrig. Doch davon ist nichts im Abstrakt der Arbeit zu lesen, was bedauerlich ist, weil die meisten Leser bekanntlich kaum mehr als diese Zusammenfassung zur Kenntnis nehmen.
Das Umdenken hat begonnen
Angesicht der Datenlage müsste die These vom ungesunden tierischen Fett längst begraben sein. Doch gibt es offensichtlich einflussreiche Kräfte, die lieber am Überkommenen festhalten. Über die Gründe darf man spekulieren. Bis heute bewerten offizielle Ernährungsempfehlungen beliebte, traditionelle Lebensmittel wie Käse, Milch und Fleisch pauschal nach ihrem Gehalt gesättigter Fettsäuren – so auch in der gerade von der Bundesregierung eingeführten Lebensmittelkennzeichnung Nutri-Score.
Auf internationaler Ebene beginnt allerdings ein Umdenken. In jüngerer Zeit setzten sich führende Experten auf dem Bereich der Kardiologie und des Fettstoffwechsels dafür ein, dass die etablierten Empfehlungen überdacht und sinnvollere Alternativen formuliert werden.
Ein prominentes Beispiel ist eine kürzlich im renommierten „Journal of the American Academy of Cardiology“ veröffentlichte Arbeit einer internationalen Gruppe von Wissenschaftlern unter der Federführung des berühmten Ernährungsforschers Arne Astrup von der Universität Kopenhagen, die den Stand der Forschung mit diesem Fazit zusammen- fasst: „Vollfette Milch und Milchprodukte, naturbelassenes Fleisch und dunkle Schokolade enthalten innerhalb einer komplexen Nahrungsmittelmatrix reichlich gesättigte Fettsäuren, erhöhen aber nicht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zusammengenommen er- gibt sich aus der Datenlage keine Begründung dafür, weiterhin die Zufuhr solcher Nahrungsmittel zu beschränken.“
Damit sprechen diese Ernährungsforscher einen grundlegenden, jahrzehntealten Fehler an, von dem sich die Ernährungsforschung nur zögernd abwendet: die Stigmatisierung einzelner Nährstoffe. Ein solch reduktionistisches Vorgehen lässt unbeachtet, dass Menschen normalerweise nicht isolierte Nährstoffe (beispielsweise bestimmte Fettsäuren) essen, sondern Lebensmittel unterschiedlicher Struktur, mit einer Vielzahl weitere Nähr- und Begleitstoffe. Sie lösen damit jeweils unterschiedliche biologische Antworten und metabolische Effekte aus.
Lebensmittel anhand einzelner Nahrungsbestandteile zu beurteilen ist daher irreführend. Viel sinnvoller ist, lebens- mittelbasierte Empfehlungen abzugeben und dabei eine abwechslungsreiche, weitgehend naturbelassene Kost in den Mittelpunkt zu stellen. Fleisch, Butter und Käse dürfen auf den Teller kommen – und dazu sollte es reichlich Gemüse, Salate, Pilze, Beeren, Hülsenfrüchte und Früchte geben.