Guter Rat ist teuer: Kostenloses Mittagessen für alle Kinder

Guter Rat ist teuer: Kostenloses Mittagessen für alle Kinder

Der Bürgerrat Ernährung hat Anfang des Jahres die Empfehlung ausgearbeitet, allen Kita-Kindern sowie Schülerinnen und Schülern kostenloses Mittagessen zukommen zu lassen. Lebensmittelmagazin.de hat sich das Für und Wider dazu angeschaut und eine Kita besucht.

Am 20. Februar 2024 übergab der Bürgerrat Ernährung sein Gutachten „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben” an den Deutschen Bundestag. Das Gutachten umfasst neun Punkte, deren erster mit 87,6 Prozent die höchste Priorität hat: „Investitionen in die Zukunft: kostenfreies Mittagessen für alle Kinder als Schlüssel für Bildungschancen und Gesundheit.“ Empfohlen wird ein gesundes, kostenloses Mittagessen, bundesweit an allen Kitas und Schulen. Der Mindeststandard richtet sich an den Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE e. V.), den Einsatz von mindestens 30 Prozent Bio-Lebensmitteln sowie den Wunsch nach Saisonalität und Regionalität.

Wer soll kostenloses Mittagessen bezahlen?

Die kostenlosen Mahlzeiten sollten mindestens zur Hälfte vom Bund finanziert werden. Ansonsten könnten nach dem Bürgerrat etwaige Finanzierungsprogramme der Länder und Kommunen umgewidmet werden, beziehungsweise das Budget der nächsten Kindergelderhöhung stattdessen hierfür eingesetzt werden.

Hehre Ziele

Als Ziel dient die gesunde Ernährung der Kinder zunächst als Grundlage ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung. Darüber hinaus soll kostenloses Mittagessen für alle die Chancengleichheit zwischen den Kindern erhöhen. Weiterer Vorteil wäre laut Bürgerrat die Entlastung der Eltern bei der Verpflegung ihrer Kinder. Zusätzlich fördern die Mahlzeiten die soziale Entwicklung einer gemeinschaftlichen Esskultur, insbesondere wenn Lehrende und Erziehende daran teilnehmen. Nicht zuletzt soll das allgemeine Gesundheitssystem nach Meinung des Bürgerrates dadurch kurzfristig und nachhaltig entlastet werden.

Elefantenrunde: Kostenloses Mittagessen für alle Kinder?

In Folge der Empfehlung des Bürgerrats lud der Bundestagsausschuss für Ernährung und Landwirtschaft am 13. Mai 2024 ins Paul-Löbe-Haus zum öffentlichen Fachgespräch mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. 

Das Paul-Löbe-Haus (Bildmitte) neben dem Reichstagsgebäude (linker Bildrand)
Foto: westend61

Professorin Ulrike Arens-Azevêdo von der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg und Professor Dr. Berthold Koletzko, Ernährungswissenschaftler am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität in München verwiesen auf Studien über den Erfolg von Gratis-Mittagessen an Bildungseinrichtungen in Skandinavien, USA und China. Ergebnis dessen wären positive Effekte auf das gesellschaftliche Klima an der Schule durch gemeinsame Mahlzeiten. Diese hätten außerdem eine sehr guten Einfluss auf die allgemeinen Ernährungsgewohnheiten der Kinder und deren Familien. Vor allem in Deutschland wären Aufstieg und Gesundheit von der sozialen Herkunft abhängig. Ausgewogene Ernährung sorge nicht nur für bessere Schulleistungen, sondern reduziere auch das Risiko von Übergewicht und Adipositas. 

Alexandra Liening, Projektleiterin der Vernetzungsstelle Schulverpflegung der Verbraucherzentrale Thüringen berichtete von ihren Erfahrungen aus dem Freistaat. Dort sind seit 2020 die DGE-Standards flächendeckend in der Kinderverpflegung eingeführt. Sie monierte die hohen Kosten, die von einigen Familien nicht zu stemmen wären. Hier benötige es in ihrem Fall die Mitfinanzierung durch das Land Thüringen.

Stephanie Wunder vom Think Tank Agora Agrar, Leiterin Team nachhaltige Ernährung, betonte die ihrer Meinung nach hohen Folgekosten von zwei- bis dreistelligen Milliardenbeträgen einer falschen Ernährung im Kinder- und Jugendalter durch Krankheiten wie Übergewicht und Adipositas. Insofern sei kostenloses Mittagessen laut Wunder eine gute, präventive Investition.

Professor Dr. Wilhelm Windisch, Experte für Tierernährung an der Technischen Universität München, hob die Notwendigkeit einer gesunden und ausgewogenen Ernährung von Kindern gerade in Bezug auf die Aufnahme von Eisen und Omega-3-Fettsäuren hervor. In diesem Punkt wäre die Ernährungsgerechtigkeit durch das gemeinsame kostenlose Schulessen ebenfalls gewährleistet.

Mark Exnert vom deutschen Städte- und Gemeindebund sah zwar die Notwendigkeit einer gesundheitsförderlichen Ernährung für alle Kinder unabhängig von der sozialen Herkunft, er bemängelte aber das vorgelegte mangelhafte Finanzierungskonzept.

Auch Manon Struck-Pacyna, Leiterin Öffentlichkeitsarbeit des Lebensmittelverbands Deutschland, sah die Defizite in der Finanzierung auf Länderebene, insbesondere in den Fällen, wo kostenloses Mittagessen mit dem Aufwand zusätzlicher Küchen, Personal und Räumlichkeiten durch bislang fehlende Infrastruktur verbunden wären.

Praxistest

Als Beispiel einer funktionierenden Kinderversorgung in der Praxis lohnt sich ein Besuch vor Ort: Tarek Ben Ismail ist Küchenchef in der Kreuzberger Kindertagesstätte Kindervilla Waldemar. Hier kocht er jeden Tag frisch für insgesamt 160 Kinder sowie deren Erzieherinnen und Erzieher, 40 Erwachsene.

Tarek Ben Ismail in der Küche der Kindertagesstätte Kindervilla Waldemar
Foto: Johannes S. – lebensmittelmagazin.de

Das monatliche Budget ist vom Berliner Senat auf 23 Euro pro Kind zu Lasten der Eltern festgesetzt, also ein Euro pro Tag für das Mittagessen. In der Kindervilla Waldemar fallen für die Eltern jeweils zusätzliche 22 Euro pro Monat fürs Frühstück an, insgesamt also 45 Euro. Zusammen mit dem Kita-Leiter arbeitet Tarek alle vier Wochen einen monatlichen Menüplan aus. Dafür wird die Kita zweimal pro Woche vom Großmarkt frisch beliefert. Als langjährige Kunden erhalten sie hier bisweilen schon mal den einen oder anderen „Kitadeal”. Ähnliche Verträge gibt es mit Herstellern wie Hemme Milch oder Märkisch Landbrot. Bei der Frage nach der Verwendung von Bio-Produkten, wie sie vom Bürgerrat empfohlen wird, muss der Koch passen: „Außer in Fall von Bio-Eiern wäre das mit dem Budget nicht machbar.”

Essen wie ein Rockstar

Nach seiner Ausbildung im Brauereigasthof, arbeitete Tarek in diversen Restaurant- und Hotelküchen und bekochte Künstler wie Die Toten Hosen, Marius Müller-Westernhagen oder 30 Seconds to Mars auf ihren Konzerttourneen. Kinder oder Rockstars – wo ist da der Unterschied? „Beim Konzertcatering habe ich gelernt, als Koch auf die besonderen, individuellen Bedürfnisse einzugehen. Die Kinder bekommen bei uns Essen in guter Restaurantqualität. Bei uns wird alles frisch gekocht, was auch bedeutet, dass weder gekörnte Brühe noch Geschmacksverstärker im Essen landet. Unterschiedliche Gerichte werden dafür mit Sojasoße abgeschmeckt. Auch Hilfsmittel wie Soßenbinder kommen nicht in Frage, dafür nehmen wir püriertes Gemüse.”

Meine Suppe ess ich nicht…

Den Kita-Kindern schmecken Tareks Gerichte. Nur wenig landet nach den Mahlzeiten im Abfall. Der Koch achtet auf die Rückmeldungen aus den verschiedenen Gruppen der Kita. Im Unterschied zu Erwachsenen sei es wichtig, auf die kleineren Portionsgrößen zu achten und die Würzintensität zu reduzieren, insbesondere beim Salz. Tarek führt aus: „Was selbstverständlich komplett wegfällt, ist das Ablöschen mit Alkohol. Was schwieriger ist, sind etwa bittere Gemüsesorten wie Radicchio. In der Wintersaison ist beispielsweise Rosenkohlsuppe komplett durchgefallen, obwohl die Kinder den ähnlichen Brokkoli lieben.

Tareks Küche
Fotos: Johannes S. – lebensmittelmagazin.de

Das bedeutet nicht, dass man das zukünftig weglässt, sondern sich Mittel und Wege überlegt, es den Kindern doch näher zu bringen. Was auch zuletzt nicht gut ankam, war eine Asia-Pfanne mit Nudeln. Viele Kinder mögen die Komponenten eines Gerichts deutlich voneinander getrennt, weil sie diese dann auch einzeln essen wollen. Man muss aber auch sehen, dass es dabei keine klaren Regeln gibt, ein bestimmtes Gericht kann beim ersten Mal super ankommen und fällt dafür beim zweiten Mal durch. Bei anderen Gerichten würde man gar nicht darauf kommen, dass es den Kindern schmeckt. Gnocchi in Gorgonzolasoße beispielsweise sind der Renner. Meine Absicht ist es, die Kinder an die verschiedenen Geschmäcker heranzuführen.”

Viermal in der Woche kocht Tarek Ben Ismail vegetarisch. Einmal pro Woche gibt es Fleisch, sei es als Gulasch, Hühnerfrikassee, Köfte oder als Bolognese-Soße in einer Lasagne. Nur Kurzgebratenes kommt nicht auf den Tisch. Das Fleisch kommt meistens vom Halal-Metzger. Alle zwei Wochen gibt es Fisch meistens in Form von Fischstäbchen oder Wildlachragout. Der Koch weiß, dass bei den Kindern zu Hause anders gekocht wird und dass die Kinder hier in der Kita in der Gruppe auch anders essen: „Ich bekomme die Rückmeldung, dass die Kinder zu Hause vom Essen hier erzählen. Die einen oder anderen Eltern holen sich bei mir auch gern Tipps, um ihr Essen zu Hause mal anders zu kochen oder wollen sich ganz einfach davon inspirieren lassen. Ich hätte große Lust, als Aktion mit den Eltern zusammen die Lieblingsgerichte ihrer Kinder zu kochen.”

Über den Bürgerrat Ernährung:

Am 10. Mai 2023 beschlossen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages die Einführung  eines Bürgerrates Ernährung. Die 160 Mitglieder des Bürgerrates kamen aus 62 Städten und Gemeinden innerhalb der gesamten Bundesrepublik. Ihre Zusammensetzung beruht auf einer gestuften Zufallsauswahl in Bezug auf Alter, Geschlecht, Ernährungsvorlieben, Bildungshintergrund, Ortsgrößen sowie Bundesländer und sollte damit die deutsche Bevölkerung abbilden. Am 29. September vergangenen Jahres trafen sie das erste Mal zusammen und diskutierten an drei Präsenzwochenenden und sechs abendlichen Online-Sitzungen. Unterstützt wurde der Bürgerrat dabei von einem wissenschaftlichen Beirat, bestehend aus elf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die von den Fraktionen des Deutschen Bundestages benannt wurden.

Artikel-Teaserbild (oben): dfuentesphotostock

About Johannes

Johannes schreibt seit 2019 als Reporter für lebensmittelmagazin.de. Seine Themenschwerpunkte sind Lebensmittelhandwerk, Lebensmittelindustrie und Gastronomie und hier besonders Nachhaltigkeit und Trends. Zudem ist er für die Berichte vor Ort zuständig.

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