Wie eine Collage angerichtet, unterschiedlichste Texturen innerhalb der Schüssel, duftende Zutaten und dann wird alles weggeschlürft, japanische Nudelsuppe ist ein Genuss für alle Sinne. Die größte Frage für Lebensmittelmagazin.de aber bleibt: Streetfood oder Delikatesse?
Die Stühle waren schon hochgestellt als wir das kleine Restaurant im Dorf Yoshino im Gebirge der japanischen Präfektur Nara erreichten. Und wie alle übrigen Geschäfte im Dorf hätten auch sie bestimmt schon seit einer dreiviertel Stunde geschlossen. Ein kleiner Elektroofen surrte und verbreitete wohlige Wärme am sonst kühlen Abend. Kurz zuvor hatte die Ryokan-Besitzerin (japanisches Gästehaus), in Ermangelung eines eigenen Angebots, dieses Abendessen per Telefon arrangiert und zum Abschied die Nudelsuppe empfohlen. Auf einem großen Tisch waren Zeitungsbögen ausgelegt, auf denen der Wirt Blätter auslegte, auf Nachfrage, vom wilden Persimon (Khaki), in die anderntags Makrelen-Nigiri (Sushi) gewickelt werden sollten. Seine Frau wies auf einen kleinen Esstisch mit Hockern und überreichte Speisekarten. Es dauerte nicht lange und die Nudelsuppe dampfte in schlichten Keramikschalen auf dem Tischchen. Die Nudeln sättigten enorm und sorgten mit den in Streifen geschnittenen Bambussprossen sowie wildem Kohl und senfigen Kräutern für sublimen Genuss.
Vom Streetfood zur Delikatesse
Der Mittagsandrang im Berliner Ramen-Restaurant „Cocolo“ im Kreuzköllner Graefekiez ist soweit abgeklungen; die Gelegenheit sich mit Chefkoch Yosuke Sumida über Ramen zu unterhalten ist günstig. Aber direkt die Eingangsfrage ist schon nicht so einfach zu beantworten, ob Ramen einfaches Streetfood oder komplexe Delikatesse sei. „Ramen ist ein relativ neues japanisches Gericht, das gar nicht so einfach zu definieren ist“, meint Yosuke Sumida. Ursprünglich stamme es aus China. Dafür würden Nudeln gekocht und in einer Pfanne Fleisch mit Gemüse als Topping angebraten. In Japan wäre es erst nach dem Zweiten Weltkrieg populär geworden. „Das war ganz einfaches Streetfood in den 1950er Jahren. Auf dem Feuer der Gulaschkanone standen zwei Töpfe, in dem einen wurden die sättigenden Nudeln gekocht, in dem anderen wurde Dashi warmgehalten. Deren Zubereitung war längst nicht so aufwendig wie heute. Da wurde vorab zu Hause aus Fleischresten Brühe gekocht, die mit Sojasauce und Glutamat abgeschmeckt wurde.“ Heute könne eine Portion Ramen durchaus über 1.000 Yen, ungefähr 10 Euro, kosten. „Noch vor 30 Jahren, in meiner Jugend kostete eine Portion 3,50 Euro“, erinnert sich Yosuke Sumida.
Dashi = Brühe?
Im Cocolo wird als Basis für Ramen, Dashi, ein Konzentrat aus Schweinefleisch, das in Sojasauce mit Ingwer und Knoblauch gekocht wird, genommen. Das Fleisch wird fein aufgeschnitten als Chashu (geschmorter Schweinebauch) auf die Portion gegeben. Dashi wird dann jeweils entweder mit Kombu, einer sehr kräftig schmeckenden Alge, Sojasauce, die hier allerdings wesentlich kräftiger und würziger schmeckt als die Handelsübliche zum Nachwürzen, sowie selbstgemachter Misopaste abgeschmeckt. Über die Frage, ob Dashi mit Brühe gleichzusetzen sei, denkt er lange nach. „Auf jeden Fall übersetzt man das japanische Wort Dashi mit der deutschen Brühe. Und wenn man zum Beispiel berücksichtigt, dass japanische Mönche auf Fleisch verzichten und ihr Dashi beispielsweise mit Shiitakepilzen und Algen zubereiten, sollte auch eine Rinderbrühe durchaus eine gute Dashi-Grundlage sein.“
Ramen, nicht einfach nur Nudel
Auch wenn es andere japanische Nudeln gibt, wie die dicken Udon, Soba aus Buchweizen oder die ganz feinen Somen, so kommen in die Ramen tatsächlich nur die gleichnamigen Nudeln. Für den Nudelteig kommt zum Weizenmehl mit Natrium und Kalium angereichertes Wasser. „Ursprünglich wurde hierfür Gebirgswasser verwendet, die Mineralien sorgen für einen besonderen Biss und eine besondere Struktur der Nudel. Eier können je nach Belieben zum Teig hinzu oder auch weggelassen werden“, erklärt der Küchenchef. Im Raum nebenan zeigt er seine aus Japan stammende Ramennudelmaschine, für ihre alle zwei Tage selbstgemachten Ramennudeln, ein riesiger Apparat.
Topping nach eigener Fasson
„Das ist die Grundlage, Nudeln und Brühe – der Rest ist verhandelbar“, stellt er klar. In der Küche brodeln die Töpfe mit der Suppe. „Zuerst werden die Knochen und das Fleisch eine Weile in Wasser gekocht. Das Wasser wird weggeschüttet und das Fleisch und die Knochen gründlich gesäubert. Das soll verhindern, dass die Brühe später unangenehm riecht. Dann erst wird die Brühe aufgesetzt“, beschreibt Yosuke Sumida. Auf der Arbeitsplatte stehen in Reih und Glied die Gastronormbehälter aus Edelstahl mit verschiedenen Toppings: dünn geschnittener Schweinenacken und -bauch, aufgeschnittenes Hähnchenschenkelfleisch, würzig gebratenes Hackfleisch, aber auch Frühlingszwiebeln, Sojasprossen, Mais und roter Ingwer, eine Spezialität aus Kyushu (südliche japanische Insel) für Tonkatsu-Ramen (Schweinefleisch-Ramen). „Zum Schluss etwas Chiliöl, fertig!“, erklärt der Ramenchef. Zu seinem Gedanken, dass sich das Essen weiterentwickele, kommt die Frage, ob sich dieses typisch japanische Gericht denn schon so internationalisiert habe, wie beispielsweise das ebenfalls japanische Reisgericht Donburi (Reisschale mit Topping), das über südamerikanische Umwege als Pokébowl (in Limette marinierter Fisch auf Reis) inzwischen in jeder erdenklichen Kombination in aller Munde sei? Er nickt: „Ich habe auch schon mit Weiß- und Blutwurst experimentiert, wer weiß was sich in einigen Jahren daraus entwickelt.“
Während des Gesprächs betreten alle paar Minuten die Essenslieferanten das Lokal, kurzer Blickwechsel und dann verschwinden sie mit gefüllten Papiertragetaschen. Es herrscht nach wie vor Corona-bedingter Lockdown. Yosuke Sumida bestätigt, dass der Genuss von Ramen nach einer Lieferservicetour nicht zu vergleichen sei mit der im Restaurant frisch zubereiteten. Ein alternatives Angebot fällt ins Auge: Eingeschweißt in Folien bietet das Restaurant die Option, Zuhause ohne großen Aufwand die frischen Nudeln kurzerhand selbst zu kochen und dann mit der erwärmten Suppe und den ebenfalls beigefügten Toppings zu genießen, eine sinnvolle Alternative zu möglicherweise abgekühlten und aufgequollenen Ramen.
Berüchtigte Nudelpäckchen
Kann man über Ramennudeln reden, ohne die berüchtigten Instantnudeln zu erwähnen? Einmal mit heißem Wasser aufgegossen und schon hat man eine sattmachende Mahlzeit – oder in ganz schlimm: Vornehmlich Teenager sitzen in S- und U-Bahnen und knuspern die Nudeln trocken, nur mit Gewürzpulver verfeinert. In den 1960er Jahren brachte die Firma Nissin die Instantnudeln auf den japanischen Markt und startete von dort aus eine globale Welle dieser Instantnudelsuppen. Wie kam es dazu? „Ich habe da eine ganz besondere Geschichte“, weiß der Ramen-Chefkoch. „In den 1960er Jahren kam es zu einer Geiselnahme durch Linke mitten im Winter im gebirgigen Asamayama. Es war bitterkalt für die Polizeimannschaften, die dort tagelang ausharren mussten. Nissin versorgte die Einheiten mit heißer Nudelsuppe um ihnen Kraft und Wärme zu spenden. Die Geiselnahme wurde landesweit im Fernsehen übertragen – beste kostenlose Werbung für die Instantramen von Nissin.“
Zum Schluss lädt der Chef vom Cocolo auf eine Schale Ramen ein, mit Shoyu (Sojasauce) abgeschmeckt. Wunderschön arrangiert und köstlich duftend steht sie auf dem Holztisch bereit zum Verzehr. Auf die Frage nach einer korrekten Etikette zum Verzehr von Ramen grinst er und verweist auf die dementsprechende Szene aus dem mit vollem Herzen zu empfehlenden Filmklassiker „Tampopo“ (https://youtu.be/z_qAmK51Er8).
Haupt-Artikelbild (oben): Johannes S. – lebensmittelmagazin.de