Zu Corona-Hamsterkäufen war Mehl ganz hoch im Kurs. Lebensmittelmagazin.de hat eine der größten Mühlen Deutschlands besucht – eher Science Fiction als Windmühlenromantik.
Die Plange-Mühle am Neusser Hafen gehört zur Bindewald und Gutting Mühlengruppe und ist eine der größten Mühlen Deutschlands. Michael Gutting ist Geschäftsführer am Neusser Standort. „Müllerei ist lokale Sache, think global, act local“, ist Michael Gutting überzeugt. Während die Preisfindung an internationalen Märkten gebunden sei, sind Ein- und Verkauf regionale Angelegenheit. Der Radius der Plange-Mühle umfasst das gesamte südliche Nordrhein-Westfalen, vom Westerwald und Siegerland bis an die holländische Grenze im Radius von 100 Kilometern, wobei ein Drittel des Einkaufs Spezialqualitäten aus Thüringen und Bayern sind. Der Geschäftsführer gibt zu bedenken: „Nordrhein-Westfalen hat nicht genügend Ackerfläche für Brotgetreide zur Versorgung der Bevölkerung. Regionalität bedeutet für uns Transparenz, Nachhaltigkeit und Sicherheit statt Blick auf dem Kirchturm.“
Mehl steht für Sicherheit und Stabilität
Mehl – damit sind viele Menschen vertraut, das steht für Tradition und Sicherheit. Und was ist mit der Diskussion um Gluten? Michael Gutting schaut über den Brillenrand: „Etwa ein Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung hat diagnostizierte Zöliakie, zwischen einem bis zu zwei Prozent der Bevölkerung leiden zusätzlich unter einer Glutensensitivität. Den sonstigen Vorzug glutenfreier Getreidelebensmittel bewerte ich eher als Lifestyle.“ Wesentlich konkreter war hingegen der zweimonatige Run auf Mehl am Anfang der Corona-Pandemie, dem ein deutlicher Rückgang folgte, nachdem alle Keller mit Mehl ausgestattet waren, die Kunden aber sahen, dass die Versorgung auch weiterhin gewährleistet war. Etwas betrübt konstatiert der Geschäftsführer: „Mehl hat eine Haltbarkeit von sechs bis zwölf Monaten, bei falscher Lagerung kann es ranzig werden, sofern es nicht zuvor schon zum Ungezieferbefall, wie dem Mehlkäfer, gekommen ist. Ich befürchte, ein Großteil der Mehlhamsterkäufe könnten im Abfall gelandet sein.“ Die Plange-Mühle hatte weniger mit dieser Herausforderung zu kämpfen, weil sie ausschließlich Business-to-Business (B2B) verkauft. „Wir sind immer gut ausgelastet, während der Hamsterkäufe waren es vielleicht fünf Prozent Mehraufwand für uns. Diese Bilder der leeren Regale haben hysterischen Charakter, echte Versorgungsengpässe in der Müllerei gab es nicht. Der Handel hat im März und April teilweise die dreifache übliche Menge bestellt. Diese Mengen kamen einerseits so schnell nicht in die Tüten und anderseits auch nicht so schnell in die Regale“, gibt Gutting zu bedenken.
Auf lange Sicht
Ebenso stellen sich die Mühlen den Herausforderungen des Klimawandels. Die Mühlengruppe nutzt überregional erneuerbare Energie aus Wasser, Wind und Solar. Davon abgesehen sorgt Prozessverfeinerung für Energieersparnis. So wird beispielsweise die Abwärme zur Heizung der Verwaltungs- und Sozialräume benutzt. „Diese Gedanken und Entscheidungen sind immer generationenübergreifend. Die Firma Bindewald gibt es seit 1871 und Gutting seit 1923. Investitionen sind immer langfristig angelegt, sozialer und ökologischer Ressourcenschutz dient dem Ziel der Stabilität des Standorts. Wir können nicht so einfach den Produktionsstandort verlagern.“ Unter dieser Prämisse beschäftigt sich die Firmengruppe auch mit Bio. Gutting ist überzeugt: „Es wird auch zukünftig möglich sein, eine wachsende Bevölkerung zu versorgen, wenn man Bio nicht ideologisch betrachtet, sondern konventionelle Landwirtschaft von Bio lernt – wie beispielsweise eine mehrgliedrige Fruchtfolge. Landwirtschaft muss technologieoffen und ideologiefrei sein. Nehmen Sie das Beispiel vom verteufelten Mineraldünger – er hat zum Rückgang des Welthungers immens beigetragen.“ In dem Zusammenhang gibt der Mühlenchef zu bedenken: „Für langfristige Nachhaltigkeit ist profitorientierte Arbeit unerlässlich, ein Landwirt ohne Profit wird den Acker ausbeuten müssen, beispielsweise ohne Rücksicht auf den Humus, dessen Erhalt und Aufbau eine sehr langfristige Investition darstellt. Ohne Humus keine Bodenfruchtbarkeit.“
Im Kern der Sache
Im Inneren des Getreidekorns sitzt der Mehlkörper, der sogenannte Endosperm, der vor allem aus Stärke, Protein und Wasser besteht. Je mehr man sich der Schale nähert, umso höher ist der Gehalt an Vitaminen, Proteinen und Ballaststoffen, während der Stärkeanteil abnimmt. Mehl ist nicht gleich Mehl. Abgesehen von Mehlen aus unterschiedlichen Getreidearten wie Roggen, Dinkel oder Weizen finden sich im Handel Mehle mit unterschiedlichen Typenbezeichnungen: Geläufig sind etwa die Weizenmehle Type 405 und 550 oder 1050. „Die Typenbezeichnung beschreibt den Aschegehalt des Mehles. 405 bedeutet etwa, dass nach dem Verbrennen von 100 Gramm Mehl 0,4 Gramm Asche übrigbleibt. Dies gibt Aufschluss über den Mineraliengehalt des Mehles“, erklärt der Mehlfachmann. Vollkornmehl bedeutet, dass das gesamte Getreidekorn vermahlen wird. „Dies erfordert eine intensive Reinigung vorab, da die äußere Schale Umwelteinflüssen und Schmutz ausgesetzt ist. Tatsächlich werden drei bis fünf Prozent der Masse runter gereinigt“, erklärt Michael Gutting. Welche Konsequenzen aktuelle Entscheidungen der Politik haben, macht er an einem konkreten Beispiel klar: „Die pauschale Reduzierung von Pflanzenschutzmitteln um 50 Prozent sowie das Verbot von immer mehr Wirkstoffen wird einhergehen mit krankheitsanfälligerem Getreide durch Pilze und Unkraut. Getreide wird nie mehr so sauber sein und das bedeutet eine Herausforderung für die Lebensmittelsicherheit. Intensive und aufwendige Reinigung wird immer notwendiger. Wir werden Unkräuter auf dem Acker finden, die wir seit 30 Jahren nicht mehr gesehen haben“, befürchtet der Mühlenchef und ergänzt: „Ich bin kein Freund von Pflanzenschutzmitteln, in der Vergangenheit wurde zu viel gespritzt, das schwächte den Acker. Aber die starken Verbote sind meist ideologisch motiviert. Ideologie ist selten hilfreich. Hilfreich ist Know-how. So viel wie nötig, so wenig wie möglich, wäre ein sinnvoller Weg.“
Zu Lande, zu Wasser und auf den Schienen
Sobald man das altehrwürdige Verwaltungsgebäude der Plange-Mühle verlässt und den Blick schweifen lässt, stellt man nicht nur fest, wie riesig das Areal der Mühle ist, sondern dass auch an allen Ecken und Enden gebaut wird, Expansion. Der junge Müllermeister und Müllereitechniker (SMS) Jannik Heßing führt durch die Mühle. Zum Bau des gewaltigen neuen Silos erklärt er: „Mit dem Bau des neuen Turms verdoppeln wir unsere Getreidelagerkapazität auf 60.000 Tonnen. Demgegenüber stehen über 100 Endproduktzellen bereit für das fertige Mehl.“ Die Plange-Mühle produziert ausschließlich für die Industrie und das Gewerbe, grundsätzlich finde man keine ihrer Mehltüten im Einzelhandel, eher Palettenweise ab 750 Kilogramm. Dabei umfasst ihr Portfolio über 300 Produkte. Sie bieten aber auch die Möglichkeit an, auf individuelle Wünsche der Industrie einzugehen.
Einen Katzensprung entfernt liegt die Baustelle der neuen Annahmegosse für die Bahn, die Fertigstellung ist avisiert für November dieses Jahres. „Die Plange-Mühle wird über den Straßen- und Wasserweg und demnächst auch vermehrt über den Schienenweg beliefert“, erklärt Jannik Heßing. Grund hierfür sei, dass der LKW-Verkehr komplett ausgelastet ist und bei Niedrigwasser des Rheins, an dem der Neusser Hafen angegliedert ist, kein Schiffsverkehr möglich ist. In erster Linie würde der hier in der Region vorherrschende Weichweizen angeliefert, aber auch Roggen. Langfristig käme Dinkel hinzu, der bislang in einer Schwestermühle vermahlen wird.
Direkt am Eingang der imposanten Mühle stehen drei 90er-Jahre-Telefonhäuschen und quer darüber ist eine straßenverkehrsuntaugliche Ampelschaltung installiert – ein merkwürdiger Anblick. Hinsichtlich dieser ominösen Telefonzellendrillinge erklärt der Müllermeister: „Dies dient den LKW-Fahrern bei der Spurensuche“. Auf den irritierten Blick erwidert er: „Die ankommenden LKW-Fahrer sehen als erstes anhand der Ampel, wie viele Annahmestellen vor ihnen belegt sind. Leuchten alle Ampeln rot, wissen sie, dass sie in ihrer Fahrerkabine warten und Kaffee trinken können. Ansonsten gehen sie in die erste Telefonzelle, scannen zunächst den Schein ein und verplomben den LKW. In der nächsten Zelle ermitteln sie, zu welcher Annahmestelle sie hinfahren müssen. Es sind übrigens tatsächlich ehemalige Telefonzellen, die Telekom hat einen immensen Friedhof davon. Dieses Verfahren ist der Plange-Mühle eigen, weil der Chef unnötiges Warten vermeiden möchte.“ Seit zwei Jahren läuft auf diesem Weg die Annahme, der Mühlengeschäftsführer hat mit seinen Lieferanten den Deal ausgehandelt: „Gute Ware gegen schnelle Annahme“. Dies bedeutet für die LKW-Fahrer „kippen und weg“. Beim Einlagern werden die Muster zur Qualitätskontrolle genommen und dann wird umgelagert. Jannik Heßing gibt zu bedenken: „Im Zweifelsfall muss der Lkw-Fahrer wiederkommen und bei Beanstandungen das Getreide wieder abholen, großer Aufwand, aber das ist in den vergangenen Jahren vielleicht dreimal passiert.“
Unweit davon wird im Hafenbecken der Plange-Mühle das Frachtschiff „Odeon“ gelöscht. Mit einem riesigen Saugrüssel saugt ein Mitarbeiter die 1.000 bis 1.500 Tonnen Getreidekörner auf, die über eine Filteranlage und Sternpassage zur Reinigung gebracht werden. „Bei niedrigem Wasserstand muss die Ladung auf bis zu 750 Tonnen angepasst werden. Bei sehr hohem Wasserstand kann sie auf bis zu 3.000 Tonnen erhöht werden. Zwar weiß man ungefähr die saisonabhängigen Tendenzen, es bleibt aber nicht vorhersehbar“, erläutert der Müllermeister. Auf den Schienen daneben werden Züge mit Silowaggons mit einem Fassungsvermögen von 60 Tonnen pro Waggon entladen. Unter die Waggons werden Transportbänder rangiert, auf denen das Korn dann zum Verladen weiter transportiert werden kann. Jannik Heßing schätzt das in der erntefreien Zeit vier bis fünf Frachtschiffe die Woche gelöscht und ungefähr 30 bis 40 LKWs abgeladen werden. Die Plange-Mühle vermahlt pro Tag 1.460 Tonnen.
Die Guten ins Töpfchen … gefühlt 1.000 Schritte vom Korn zum Mehl
Angekommen bei der Getreidereinigung stehen dort zunächst Kombi-Reinigungsmaschinen. Nachdem ein Magnet etwaige Metallteile aus dem Getreide rausgeholt hat, filtern grobe Siebe Steinchen und Spelzen heraus. Dem folgen weitere Trennverfahren, basierend auf spezifischem Gewicht, Länge und Optik. Im sogenannten Trieur dreht sich eine große Trommel, dessen Innenwand mit kleinen kugelförmigen Mulden ausgestattet ist. Die länglichen Körner verbleiben in den Mulden, während Samen, Bruch oder kleinere Steinchen „herausgetragen“ werden. Bei den optischen Sortierern fallen 2.000 Kilogramm Getreidekörner pro Stunde einzeln nebeneinander durch Rinnen an vier Kameras vorbei, die anhand des Farbspektrums alle Objekte raus sortieren, die den vorgegebenen nicht entsprechen. Diese werden dann mit Luftdüsen ausgepustet. Der Müllermeister erklärt: „Verunreinigungen wie der Samen von Soja lassen sich mit bloßem Auge kaum von Getreidekörnern unterscheiden, die Kamera kann diese aber erfassen.“ Auf dem Display des optischen Sortierers taucht der Begriff „mutterkornsave“ auf. Ist Mutterkorn, der Schimmelpilz der Roggen befällt, nicht ein mittelalterliches Phänomen, durch das früher ganze Landstriche entvölkert wurden? Heutzutage hört man davon doch nur noch höchst selten. Diesen Gedanken korrigiert der Müllermeister: „Mutterkorn war, ist und bleibt ein Thema. Durch Fortschritte in Züchtung, Ackerbau und müllerischer Reinigungstechnik haben wir das Thema seit vielen Jahren gut im Griff. Jedoch sollen wir zukünftig mit noch strengeren Höchstgehalten für Mutterkorn operieren. Gleichzeitig werden die Pflanzenschutzmittel – also die Medikamente mit denen auf dem Feld etwas gegen den Pilz getan werden kann – immer weniger. Das ist eine riesige Herausforderung! Auch hier braucht es kluge, pragmatische Lösungen. Schließlich müssen wir auf der einen Seite die Lebensmittelsicherheit und auf der anderen Seite die Versorgungssicherheit der Bevölkerung gewährleisten.“
Zerstören & sortieren
Vor dem Mahlvorgang muss das Getreide zunächst befeuchtet werden. Diesen Vorgang nennt man Netzen, es ist notwendig, um die trockene und spröde Schale des Korns elastisch zu machen, denn ansonsten zerbricht die Schale während des Mahlvorgangs in viele kleine Teile. Jannik Heßing informiert: „Ziel ist ein gleichbleibendes Endprodukt mit einer Feuchte von 14,5 Prozent. Diese ist abhängig von der Umgebung, im Sommer muss mehr befeuchtet werden, im Winter weniger.“ Der nächste Schritt ist der Walzenboden, dieser ist angefüllt mit vielen in Reih und Glied stehenden Walzenstühlen, die über Rohre mit Mahlgut versorgt werden. In den Stühlen befinden sich Walzen, die sich in Riffelung oder Drall unterscheiden, je nachdem ob sie Getreide, Schrot oder Grieß vermahlen sollen. Der Müllermeister erklärt: „Müllerei bedeutet zerstören und sortieren. Produkte, die gröber sind, werden weiter gemahlen. Das Ziel ist so viel Mehl wie möglich aus dem Korn zu erhalten.“ Aus den Walzenstühlen fällt das Mehl in die Abscheider und geht dann an die Plansichter, auch Siebschränke genannt. Beim Betreten des Raumes erfasst einen innerhalb von Sekunden erheblicher Schwindel wie im Drehtunnel eines Kirmesirrgartens. In unterschiedlichen Tempi rütteln die vielen Maschinen die gesamten Korridore entlang. Von unten fährt ein Gebläse durch, während von oben das Gemahlene durch die unterschiedlichen Maschen der Siebeinsätze fällt. „Mir macht inzwischen die Rüttelei nichts mehr aus. Sie rütteln unterschiedlich, damit nicht die Statik des Gebäudes in Gefahr gebracht wird“, erklärt Jannik Heßing. Er greift in die Maschine und holt nacheinander jeweils eine Handvoll Gemahlenes in unterschiedlichen Graden heraus: Schrot, grober Grieß, Feingrieß und Dunst mit Mehl. Auf der Grießputzmaschine wird mit Gebläse der Grieß über Sieben gereinigt, sodass auf der einen Seite der geputzte Grieß, auf der anderen Seite die braune Kleie herauskommt. Die Mehlausbeute liegt, laut Heßing, bei ungefähr 80, 81 Prozent. Die saubere Kleie wird zum Kraftfutterwerk abtransportiert. Das Mehl wird wahlweise in einem der Silos eingelagert, in Säcken zwischen 10 und 25 Kilogramm abgepackt oder direkt in Silo-LKWs eingefüllt.
Viele Arbeitsschritte in einer Mühle laufen heute voll automatisiert ab und werden mittels Computer gesteuert. Eine Sache gibt Müllermeister Heßing zu bedenken – trotz der modernen Anlage brauchen die Mühlen Nachwuchs und gut ausgebildete Fachkräfte: „Die Lehre der Verfahrenstechnologie Mühlen- und Getreidewirtschaft umfasst so viele Aspekte – natürlich das Müllerhandwerk, aber dazu gehört eben auch Elektrotechnik, Schlosser- und Programmierkenntnisse. Mein Alltag in der Mühle ist irre abwechslungsreich. Arbeit für Müller wird es immer geben“.
Haupt-Artikelbild (oben): Rüdiger Dunker Fotodesign – Plange GmbH