Garum, das Salz der Antike aus fermentierten Fischen, erlebt in Lissabon gerade eine Renaissance. Lebensmittelmagazin.de klärt über die neue alte Würzsauce auf.
In Lissabon liegt unweit des Uferkais des Tejos am Platz des Handels (Praça do Comércio) das Restaurant Canthecan. Hier wird den Besucherinnen und Besuchern der wohl bekannteste kulinarische Export Portugals in köstlichen Menüs serviert: Fische, wie zum Beispiel Sardinen, in Olivenöl aus der Konservendose. Darüber hinaus können Foodies im Canthecan aber noch einen weiteren Schatz kaufen: Garum, eine spezielle Fischsauce, abgefüllt in Pipettenflakons.
Garum in der Antike
Portugal war in der Antike, vom ersten bis zum fünften Jahrhundert nach Christus, als Provinz Lusitania berühmt für seine Garum-Produktion. Garum entstand, wenn man Fische wie Thunfische, Sardellen und Makrelen einschließlich ihrer Eingeweide mit Salzlake vermischte und in offenen Becken lange der Sonne aussetzte. Die Geruchsentwicklung war nasenbetäubend und wurde deshalb nur außerhalb der Wohngebiete praktiziert. Aber dafür war und ist die bernsteinfarbene Flüssigkeit ein bemerkenswert feiner Umami-Booster.
Während des Lockdowns
Victor Vicente ist der Ehemann von Maria da Luz, der Besitzerin des Canthecan. Er arbeitete zunächst als Produktdesigner, bis er 2019 seinen Job an den Nagel hing und sich dem Projekt Garum widmete. Seine erste Herausforderung bestand darin, ein möglichst originalgetreues Rezept zu entwickeln: „Wir können nicht sagen, dass wir Garum genau wie die Römer produzieren. Die erhaltenen Texte zu den Rezepten existieren nur noch fragmentarisch. So lässt sich beispielsweise nirgendwo der Einsatz von Wasser nachweisen. Dafür kamen wohl Unmengen an Salz zum Einsatz.”
Dann kam die Corona-Pandemie und Victor Vicente hatte ausreichend Zeit und Muße mit dem Salzgehalt, dem Wasseranteil, sowie Temperatur und Zeit zu experimentieren. „Wir bieten mittlerweile zwei Arten von Garum an. Zum einen nehmen wir für die leichtere Garum-Variante Sardinen, beziehungsweise ganze Makrelen, als Grundlage. Die Enzyme aus den Eingeweiden der Fische unterstützen den Fermentationsprozess. Dabei werden die Zellen des Fleisches, also deren Proteine und Fette, während der sogenannten Autolyse sukzessive aufgebrochen und abgebaut, bzw. verflüssigt. Wir verwenden nur Fische aus dem Atlantik vor Portugal. Bei der Kälte des Wassers entwickeln die Sardinen und Makrelen besonders fettreiches Fleisch. Mit marokkanischen Sardinen aus dem warmen Mittelmeer wäre das Ergebnis sicher ein anderes. Die zweite Garum-Variante entwickeln wir aus dem Blut und den Innereien von Schwertfisch bzw. Thunfisch. Der Geschmack ist wesentlich komplexer und dunkler durch den höheren Eisengehalt im Blut.” Der Fermentationsprozess ist auch heute noch von starken Gerüchen begleitet. Außerdem ist absolute Frische des Materials von Nöten. Vicente betont: „Die für Garum vorgesehenen Fische sollten nicht älter als zehn bis zwölf Stunden sein, nachdem sie aus dem Wasser gefischt wurden. Sonst droht der Fermentationsprozess zu kippen.“
Garum als Umami
Und wie schmeckt es? Victor Vicente bietet bei der kleinen Privatverkostung Garum aus Sardinen, Makrelen, Schwertfisch und Thunfisch an. Die Tröpfchen der verschiedenen Sorten schmecken pur vom Handrücken geleckt, angenehm, mehr oder weniger komplex und überraschenderweise weder extrem salzig noch fischig, wie man es etwa von einer thailändischen oder vietnamesischen Fischsauce her kennt. Diese verzaubern zwar jedes Curry, haben aber pur einen sehr gewöhnungsbedürftigen Geschmack. Garum hingegen schmeckt eher wie Parmesan. Vicente erklärt dazu: „Wenn man Garum etwa im Tomatensalat einsetzt, schmeckt das Gericht keineswegs nach Fisch, sondern tatsächlich am ehesten noch nach Parmesan, eine klassische Umamiquelle eben. Man kann Garum bereits beim Kochen hinzufügen, etwa bei Suppen und Eintöpfen. Oder noch besser beim Anrichten zum geschmacklichen Abrunden nicht nur über Fisch, sondern auch hervorragend über Steaks und Tartar.”
Garum passt gut zu vielen Gerichten, zum Beispiel: Thunfisch-Pastrami-Sandwich mit geröstetem Brioche und Krautsalat (links) oder Thunfisch-Tartar mit Schnittlauchöl (rechts). Fotos: Mariana Motta Veiga
Wie in den guten alten Zeiten
Die Produktionsstätte von Victor Vicentes Firma Selodemar liegt in Setubal, etwas südlich von Lissabon am Atlantik. Ihr gegenüber liegt die Halbinsel Troia. Hier haben Archäologen ein ehemaliges Zentrum für Garum freigelegt, an die 25 Werkstätten, die im römischen Reich die begehrte Fischsoße herstellten. „Unter den Ausgrabungstücken befanden sich auch noch intakte Steinkrüge, in denen vor knapp 2.000 Jahren bereits Garum gebraut wurde. In Zusammenarbeit mit den Archäologen haben wir versuchsweise in solch einem Tank, der ungefähr 1 x 1 x 1,5 Meter maß, Garum angesetzt, mit 400 Kilogramm Sardinen. Damit aufgrund des porösen, innen ausgekleideten Zements, das Garum nicht verunreinigt wird, haben wir den Behälter mit Kunststofffolie ausgekleidet. Die größte Herausforderung war es, die Temperaturen von 23 bis 27 Grad Celsius einzuhalten. Zur Sicherheit haben wir dafür mit Biologen zusammengearbeitet. Die genaue Temperatur ist sehr wichtig während des Fermentationsprozesses. Das Ergebnis entsprach ziemlich unserem bereits etablierten Verfahren.”
Bald wieder in aller Munde
Vicentes Experimente reißen nicht ab, einerseits weiterhin mit dem Gehalt von Salz und Wasser, andererseits aber auch bezüglich der Zutaten. Garum mit Austern hatten ein klares, goldenes Garum als Ergebnis. Demnächst will Selodemar Seeigel testen. Im Sortiment findet man auch eine vegane Variante, die auf Blütenpollen basiert.Um diesen nahezu vergessenen Schatz der Antike wieder auf gegenwärtige Teller zu bekommen, kooperiert Selodemar mit dem Lisboa Romana Project, welches das römische Erbe der Region und damit verbundene Produkte unterstützt. In diesem Kontext ist zum Beispiel im Juli 2024 eine kulinarische Woche „am Tisch der Römer” geplant, bei der 25 lokale Restaurants teilnehmen werden, mit alten und neuen Rezepten. Hierbei dürfte Garum dann eine große Rolle spielen.Im Übrigen kann Garum nicht nur herzhaft verwendet werden, im traditionellen portugiesischen Pudim Abade de Priscos, einer Art Karamellpudding, finden die Umami-Tropfen ebenfalls Verwendung, allerdings sieht das Originalrezept auch Schinken vor, was mindestens genauso ungewöhnlich sein dürfte.Übrigens: Garum sucht man in deutschen Supermärkten leider vergeblich, erhältlich ist es vielleicht in Spezialgeschäften. Aber man kann es online bestellen, beispielsweise im Shop von Canthecan. Hier findet man auch portugiesische Rezepte zur Inspiration.