Eine provokante Frage: Ist Fettleibigkeit das Ergebnis persönlicher Entscheidungen oder spielen unsere Gene eine größere Rolle als bisher angenommen? Der Genetiker Prof. Dr. Giles Yeo von der Universität Cambridge hat dazu auf dem Ernährungskongress des Lebensmittelverbands Deutschland gesprochen.
Physik hinter dem Gewicht
Für viele ist die Energiebilanzgleichung simpel: Wer mehr Kalorien zu sich nimmt, als er verbrennt, nimmt zu. Dr. Yeo stellte jedoch klar, dass diese physikalische Wahrheit nicht erkläre, warum manche Menschen mehr essen als andere. “Die Physik erklärt das Wie, aber nicht das Warum”, betonte er. “Warum reagieren manche Menschen auf Stress mit Essen und andere nicht? Warum haben einige ständig Hunger, während andere Essen nur als Treibstoff sehen?”
Zwillingsstudien zeigten, dass die Erblichkeit des Körpergewichts zwischen 40 und 70 Prozent liege. “Die Erblichkeit des Körpergewichts nähert sich der von Körpergröße an”, erläuterte Yeo. “Gene spielen eine erhebliche Rolle dabei, wie viel wir essen und wie unser Körper darauf reagiert.”
Genetik als Schlüssel
Ein zentraler Punkt in Yeos Forschung sei der Leptin-Melanocortin-Weg, ein Signalpfad im Gehirn, der unser Essverhalten beeinflusst. Leptin, ein Hormon, das von Fettzellen produziert wird, signalisiere dem Gehirn den Energiezustand des Körpers. Bei Menschen mit Leptinmangel glaube das Gehirn deshalb fälschlicherweise, dass der Körper verhungert, was zu unkontrolliertem Essverhalten führt.
Yeo brachte ein Beispiel mit: Er berichtete von einem dreijährigen Kind, bei dem eben jener Gendefekt vorlag, das bereits 42 Kilogramm wiegt. Durch die Verabreichung von Leptin normalisierte sich sein Gewicht. “Das zeigt, wie entscheidend Hormone für die Gewichtskontrolle sind”, so Yeo.
Motivierte Labradore
Nicht nur beim Menschen spiele dieser Signalweg eine Rolle. Labradore mit einer Mutation im POMC-Gen seien ständig hungrig und neigten zu Übergewicht. “Diese Hunde sind extrem futtermotiviert”, erklärte Yeo. Interessanterweise würden gerade diese Hunde oft als Blindenhunde eingesetzt, da ihre Futtermotivation das Training erleichtere.
Auch in der Viehzucht werde dieser Effekt genutzt. Schweine mit Mutationen im Melanocortin-4-Rezeptor (MC4R) wüchsen schneller und würden daher bevorzugt gezüchtet. Sogar der blinde mexikanische Höhlenfisch weise Mutationen in diesem Signalweg auf, alle Exemplare, die nicht jede Gelegenheit zur Nahrungsaufnahme nutzten, wären gewissermaßen evolutionär ausgesiebt worden und seien ausgestorben.
Hoch gepokert
Angesichts dieser genetischen Einflüsse stellte Yeo die Frage: “Wo bleibt die Wahl?” Wenn unsere Gene einen so großen Einfluss auf unser Essverhalten hätten, sei Fettleibigkeit dann wirklich eine Entscheidung? Er argumentierte, dass wir unsere genetische “Kartenhand” nicht wählen könnten. “Aber wir können entscheiden, wie wir mit diesen Karten spielen”, fügte er hinzu. Denn abnehmen könne man trotzdem. Es sei nur für einige Schwieriger, wenn sie – genetisch bedingt – mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zum Nachtisch griffen.
Der Nachtischmagen
Übrigens: Warum haben wir nach einer üppigen Mahlzeit noch Platz für den Nachtisch? Yeo erklärte dies mit evolutionären Überbleibseln. In Zeiten von Nahrungsknappheit wäre es überlebenswichtig gewesen, so viele Kalorien wie möglich zu speichern, auch wenn unser Magen bereits voll gewesen sei. Daher sehne sich unser Gehirn nach kalorienreichen Lebensmitteln, selbst wenn wir satt seien.
Dr. Yeo betonte, dass ein Verständnis der biologischen Faktoren notwendig sei, um effektive Strategien gegen Fettleibigkeit zu entwickeln. “Es geht nicht darum, Ausreden zu finden, sondern darum, Lösungen zu erarbeiten, die sowohl die biologischen als auch die sozialen Faktoren berücksichtigen.”
Artikel-Teaserbild (oben): Sandra Ritschel