Essen muss jede:r, was aber noch lange nicht bedeutet, dass jede:r weiß wie. In einem Berliner Suchttherapiezentrum wird rund ums Essen unterrichtet, Lebensmittelmagazin.de hat dabei in die Kochtöpfe geschaut.
In bester Wilmersdorfer Wohnlage, in einem ehemaligen Frauen-Krankenhaus, liegt das Suchttherapiezentrum „Pfalzburger“ des Suchthilfeträgers Tannenhof Berlin-Brandenburg. Die stationäre Einrichtung bietet Platz für ungefähr 60 Rehabilitand:innen. „Ziel der Therapie ist Restrukturierung, die Menschen wieder fit für den Alltag zu machen. Je nach Bewilligung bleiben sie zwei bis sechs Monate in unserer Einrichtung“, sagt Tannenhof-Pressesprecher Boris Knoblich. „Der Entzug findet vorab statt, in Entzugskliniken, die Enttoxikation dauert normalerweise ein bis zwei Wochen. Hier bei uns lernen sie sich wieder im Alltag, mit seinen Herausforderungen, zurechtzufinden. Dabei muss man feststellen, dass statistisch nur jede zweite Therapie erfolgreich abgeschlossen wird. Neben viel Sport, bei uns ist das ein Schwerpunkt, gehört Ernährungsschulung zum Programmplan.“
Unterrichtsfach: Essen
Katja Stein ist Ernährungsberaterin und Lehrerin in der Pfalzburger. Ihre „Schüler:innen“ seien dabei keineswegs ungebildet und prekär, sondern stellen den Querschnitt der Gesellschaft dar; am wichtigsten sei es, ihnen ihr Potenzial bewusst zu machen. Jede:r erhält bei ihr Unterricht in Ernährungsgrundlagen: „In vier Einheiten geht es zunächst um Biologie, Stoffwechselprozesse im menschlichen Körper, wie beispielsweise der Pankreas arbeitet; der Unterschied zwischen Vollkorn- und Weißmehl und die Bedeutung von Kohlenhydraten für den menschlichen Körper überhaupt. Das ist auch insofern praxisorientiert, als dass wir über Moden sprechen. Letztes Jahr waren Chiasamen in, da spricht heute gar keiner mehr drüber. Low Carb ist auch so eine Mode, da kläre ich darüber auf, welche Folgen und vor allem Schäden das für den Körper haben kann.“ Genauso wichtig sei es aber, trotz möglicherweise knappen Budget über Nachhaltigkeit beim Essen aufzuklären, meint die Ernährungsberaterin: „Wir reden über Tierhaltung und Getreideanbau. Wie es sein kann, dass ein Brötchen sechs Cent kostet. Und Haferflocken als nachhaltige Frühstücksalternative ist für viele beispielsweise neu.“
Geschmack neu erleben
Eine andere Unterrichtseinheit behandelt Sensorik. Die Ernährungsberaterin berichtet: „Ich bringe sechs Lebensmittel zum Unterricht mit, z. B. Schokolade mit Salzkaramell oder weiße Schokolade mit Kokos, es können auch Haferflocken oder Cashews sein. Sie sollen die Lebensmittel bewusst erleben und sich auf den Geschmack konzentrieren und beschreiben.“ Drogen hätten starken Einfluss auf den Geschmackssinn, viele könnten kein Salz schmecken. Kokain beispielweise zerstört die dafür wichtigen Nasenschleimhäute, aber auch Alkohol und Zigaretten schränken den Geschmackssinn ein. „Fast alle rauchen in dieser Einrichtung, Nikotin ist die einzig akzeptierte Droge. Alkohol und andere Drogen sind hier nicht gestattet, auch keine Energydrinks, da ist die Nähe und Assoziation zu Partygetränken zu groß.“ Auf der anderen Seite müssten die Rehabilitand:innen später im Alltag auch mit Triggersituationen klarkommen, sei es beispielsweise Alkohol, oder auch das soziale Umfeld. „Früher gab es genau gegenüber der Pfalzburger einen Getränkemarkt, also waren sie quasi schon mit einem Schritt vor der Tür konfrontiert“, gibt die Ernährungsberaterin zu bedenken. Wichtiger Bestandteil der Sensorikstunde sei es auch, ein Stück Schokolade im Mund schmelzen zu lassen und nicht einfach zu kauen. „Viele schaufeln das Essen in sich hinein ohne zu genießen, ein Sättigungsgefühl kennen viele nicht.“ Außerdem erhält jede:r eine individuelle Stunde. Mit der Sucht kämen körperliche Defizite wie Fettleber, Leberzirrhose oder auch Mangelernährung. „Besonders bei Frauen gibt es neben der Sucht noch Essstörungen, sei es Bulimie, Magersucht oder Binge-Eating, die können auch erst im Rahmen der Therapie auftreten. Diese individuellen Probleme werden besprochen und im Zweifelsfall geschaut wie damit weiter verfahren wird“, berichtet Katja Stein.
Kochen macht Freude
Aber jetzt freut sie sich auf die kommenden anderthalb Stunden. „Kochen muss Spaß machen“, ist ihr Motto, denn: „Es ist nicht sinnvoll, sich haarklein ans Rezept zu halten und jeden Arbeitsschritt genau vorzugeben, das führt in erster Linie zur Frustration bei den Leuten und dem Gefühl, nichts zu können. Dabei ist es viel wichtiger, hiermit etwas zur jeweiligen Struktur beizutragen. Wir sprechen viel über Nährstoffe, ich erkläre ihnen, dass ihr Körper ihr größtes Gut sei und sie sich um dessen Versorgung kümmern müssen.“ Vor der heutigen Kochstunde hat sie mit der Gruppe darüber nachgedacht, was sie kochen möchten: Man einigte sich auf Spätzle mit Tomatensoße und Ofengemüse. Am Anfang der Stunde sind erst drei Teilnehmer:innen erschienen. Traurig bemerkt Katja Stein, dass ein Teilnehmer kürzlich erst die Therapie abgebrochen habe. Zuvor wurde im Bioladen eingekauft: ein üppiger Zweig Rosmarin, violette Urmöhren, Zwiebeln, Knoblauch, Süßkartoffeln, Rosenkohl, Tomaten sowie Filetsteaks und Putenbrust.
Nur Frauensache?
Katja Stein ärgert sich darüber, dass die vorherige Gruppe die benutzten Springformen vom Kuchenbacken ungereinigt neben der Spüle stehen ließen. Gruppenältester Roger entpuppt sich als ehemaliger Gastronom, für den die Kochstunde unterhaltsam, aber eher keine Herausforderung mehr bietet. Eine andere Teilnehmerin Hanna wiederum erzählt, dass sie zwar bei ihrer Mutter kochen gelernt habe, aber im Laufe der vergangenen acht Jahre, in denen sie von ihrem damaligen Freund bekocht wurde, vieles vergessen hätte. Verspätet und schlaftrunken kommt Manuel in die Küche. Er hatte bis halb eins mittags geschlafen und auch das Frühstück verpasst, wofür ihn die Ernährungsberaterin tadelt. Er zeigt sich dafür ausgesprochen versiert im Kochen. Djanka wiederum ist dem Kochen gegenüber skeptisch eingestellt, essen könne er, Kochen sei jedoch Frauensache. Unter freundschaftlichen Gruppendruck sowie liebevoller Anleitung von Katja Stein ist er schlussendlich derjenige, der den Spätzleteig anrühren darf – was er sehr ordentlich und gewissenhaft macht. Anschließend schneidet er die Tomaten für die Tomatensoße. Man soll es kaum glauben, dass ein erwachsener Mann zum ersten Mal in seinem Leben Tomaten schneidet und ihm die Ernährungsberaterin geduldig erklärt, dass die Strünke auszuschneiden seien. Im Vergleich dazu schneidet Manuel souverän Zwiebeln klein, man sieht den passionierten Hobbykoch, dessen Handgriffe in der gesamten Kochstunde sitzen. Es wird in der Gruppe diskutiert, wie viel Knoblauch verarbeitet werden soll, für die Soße aber auch fürs Ofengemüse, letztendlich die gesamte Knolle. Für Hanna war die Kochstunde sicherlich ein besonderes Erlebnis, schnippelte sie zuerst scheinbar etwas lustlos das Ofengemüse klein, riefen die aufsteigenden Düfte karamellisierter Zwiebel des Sugoansatzes mit seinen Kräutern in ihr große Begeisterung hervor: „Ist das geil!“
Eine große Herausforderung stellt das Spätzle schaben dar. Katja Stein zeigt Djanka, wie er den Teig über das Brett verteilen soll, dann kurz ins Kochwasser tauchen und los schaben. Das machte er, wenngleich unter Fluch und Protest, sehr gut, offenbar kämpfte der „innere Macho“. Fast erleichtert reicht er Brett und Schaber weiter, um den Tisch zu decken. Tadellos brät Roger das selbst marinierte Steak und die Putenbrust an. Katja Stein erinnert an die Reinigungsdisziplin und lässt sämtliche Kochutensilien sofort in die Spülmaschine räumen. Man könnte den Verdacht haben, dass dies ein wichtiger Unterrichtsbestandteil ist. Katja Stein hat jetzt mit allen Rehabilitand:innen des Hauses die verbindliche Kochstunde absolviert, von nun an dürfen alle freiwillig zum Kochen kommen, und sie erhält dafür auch prompt interessierte Rückmeldungen. Als alle am Tisch sitzen, gibt es einen der zuvor erwähnten Triggermomente: „Gibt es heute Whiskey?“, fragt Hanna etwas scherzhaft. Als Wassergläser stehen geschliffene Tumbler auf dem Tisch.
Mit der Bildung wächst der Anspruch
Die Gruppe genießt gemeinsam das Essen, besonders Hanna ist vom schmackhaften, würzigen Ofengemüse angetan – unscheinbares, langweiliges Gemüse verwandelt sich mit nur wenigen Handgriffen und Zutaten im Backofen zur Köstlichkeit. Der Ernährungsunterricht hat aber noch einen Nebeneffekt. Dadurch, dass ihre Schüler:innen die Mahlzeiten nicht mehr nur in sich „reinschaufeln“ sondern bewusster essen, bemängeln jetzt viele die lieblose Zubereitung der Kantinenküche. Hanna erinnert daran, dass der Chefkoch, der für die Würzung verantwortlich ist, Corona gehabt hat und möglicherweise in der Folge kein Salz mehr schmeckt. Katja Stein verspricht der Gruppe, sich mit der Küche über eine zukünftige Lösung zu einigen. In einer anderen Einrichtung hat sie dafür gesorgt, die Gruppenverpflegung auf Bio-Lebensmittel umzustellen. „Trotz eines Verpflegungsbudgets von 5 Euro am Tag ist dies möglich, wenn man unter anderem mit lokalen Bauern verhandelt und beispielsweise Gemüse nimmt, das etwas verwachsen ist und vielleicht Druckstellen hat.“ Inwieweit sich der Ernährungsunterricht im Rahmen der Suchttherapie von einem Lehrplan für Ernährungsunterricht an einer konventionellen Schule unterscheiden würde, entgegnet Katja Stein bestimmt: „Kein Stück! Schülern müsste man haargenau dieselben Informationen vermitteln.“
Artikel-Teaserbild (oben): Tannenhof Berlin-Brandenburg