Ob mit den Kolleginnen und Kollegen nach der Arbeit in der Rooftop-Bar oder das Feierabendbier zu Hause: Manchmal ist ein Aperitif mit oder ohne Alkohol eine schöne Zäsur zwischen Alltag und Abend. Lebensmittelmagazin.de ist ins Bargespräch vertieft.
„Der Aperitif ist mehr als nur ein Getränk vor dem Essen, das den Magen ‚öffnen‘ und den Appetit anregen soll. Vielmehr läutet er die müßige Tageszeit nach getaner Arbeit ein, verkürzt die Zeit vor dem Essen auf höchst angenehme Weise und bereitet den Gaumen sensorisch auf Genuss vor“, weiß Andreas Till, Inhaber der Münchner Bar Pacific Times. Dabei ist dieser Zeitpunkt nicht festgelegt und kann irgendwann zwischen nachmittags bis tief in den Abend passieren.
Den Augenblick feiern
Den Aperitif bewusst zu zelebrieren und sich Zeit dafür zu nehmen, kennt man laut dem Fachmann beispielsweise am ehesten noch aus dem Urlaub am Mittelmeer: „Man kommt nachmittags vom Strand, duscht sich, zieht sich für den Abend etwas Anderes an und überbrückt die Zeit bis zum Abendessen mit einem schönen, erfrischenden Getränk.“ In Frankreich und Italien, wo der Aperitif im Alltag als fester Bestandteil des Tages verbreiteter ist, fällt er bisweilen kürzer und von der Familie abgekoppelt aus, mit den Arbeitskolleginnen und -kollegen an der Bar stehend. „Vielfältig ist dort auch das Angebot für den Aperitif. Von Schaumweinen, wie Champagner und Sekt, über Vermouths und Bitterspirituosen, anishaltigem Pastis und Ouzos bis hin zu Cocktails mit und ohne Alkohol“, schwärmt Andreas Till.
In Deutschland kennt man eher das „Feierabendbier“, das laut Till ein zu Unrecht unterschätzter Vertreter des Aperitifs sei. „Herb, kalt und sprudelnd verkörpert es alles, was auch Campari Soda oder Prosecco tun“, gibt der Bartender zu bedenken. Aber auch andere Getränke aus heimischer Produktion sind hier sehr beliebt: Heimische Weine, vor allem Weißwein und Rosé, Winzersekt, Sirups und Cordials, also Kräuterliköre, stoßen auf großes Interesse. Zudem wird die Palette mit Vermouths, Gins und Bittergetränken aus Deutschland immer populärer, meist wird hierbei auch immer eine alkoholfreie Variante mit angeboten.
Der Trend zum Aperitif habe insbesondere während der Coronaeinschränkungen zugenommen. „Nach dem allgemeinen Lockdown, bei dem die Gastronomie komplett geschlossen war, hatten Bars und Restaurants zumindest die Möglichkeit bis 20 Uhr zu öffnen. Es war Frühling, das Wetter war angenehm, draußen konnte serviert werden und außerdem haben wir als Kompromiss Drinks to go im Becher angeboten. Wir hatten dann um 17 Uhr statt 18 Uhr geöffnet. Nur um eine solche Uhrzeit will man noch nicht so Hochprozentiges trinken, ansonsten schmeckt man dann nicht mehr viel vom Grünen Veltliner zum Abendessen. Auch wenn wir jetzt, nach Corona, erst wieder um 18 Uhr öffnen, so hat sich die Primetime nach vorne auf 18.30 Uhr verschoben.“
Früher war alles kleiner
Auf den Einwand, dass ein klassischer Aperitif-Cocktail wie der Martini-Cocktail nun aber alles andere als ein alkoholisches Leichtgewicht sei, entgegnet der Barfachmann: „Für mich ist der Martini-Cocktail, wie er heute serviert wird, auch kein Aperitif mehr. In früheren Rezepturen war der weinhaltige Wermutanteil wesentlich höher gegenüber des hochprozentigen Gins. Außerdem verdünnte kleingestoßenes Eis die Drinks weitaus mehr, als die heute üblichen großen Eiskugeln. Zudem wurden die meisten Cocktails in wesentlich kleineren Gläsern serviert.“ Der frühere Standard von 3cl, was heute fast als Shot gilt, sei inzwischen 12 und mehr cl gewichen. Till gibt den Tipp: „Der Film ‚Midnight in Paris‘ von Woody Allen zeigt sehr detailverliebt in der Requisite den Standard an Gläsern und Barequipment in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – alles viel kleiner.“ Stimmt, in 30er-Jahre-Krimiserien wie dem „Dünnen Mann“ von Dashiell Hammett halten die Hauptdarsteller einen Cocktail nach dem anderen in der Hand, sodass sie eigentlich nach 20 Minuten ausfällig werden müssten.
Ähnliches gilt auch für den Negroni, der zu gleichen Teilen aus Gin, Wermut und Campari serviert wird. „Da muss man sich nur die Geschichte des Cocktails anschauen. Ursprünglich handelte es sich bei diesem Cocktail um einen Americano. In Mailand, der Heimat des Campari, wurde er als Mi-To Cocktail (Milano-Torino) serviert, ein Campari, der mit Wermut aus Turin abgerundet wurde. In Turin wurde er hingegen als To-Mi-Cocktail, bei dem der Wermut mit Campari abgerundet wurde, kredenzt. Amerikanische Touristen bestellten diesen dann mit Soda um ihn spritziger zu machen. Der namensgebende Graf Negroni wiederum sorgte mit ein paar Spritzern Gin für mehr Sprittigkeit. Woher die heutige Rezeptur stammt, alle Zutaten zu gleichen Anteilen zu mixen, und warum manche Kollegen dies so anbieten, weiß ich nicht. Es gibt keinen Cocktail mit gleichen Zutatenanteilen, jedes Getränk hat seine Balance, ähnlich einem Musikstück. Da würde man den Rest der Musik auch nicht dem Gitarrensolo angleichen“, gibt er sinnigerweise zu bedenken.
Außer Pina Colada
Signature-Drink der „Pacific Times“-Bar von Andreas Till ist der Campari Seltz, wie man ihn in der Mailänder Camparino-Bar in der Galeria Vittorio Emanuele II serviert: Mit Soda aus der Seltz-Maschine, die mit 15 bar den gefrorenen Campari aufschäumt.
Auf die Frage, was den Aperitif von anderen Cocktails unterscheidet, entgegnet Andreas Till: „Wir wollen keine Dogmen schaffen, erlaubt ist was gefällt. Aber aus kulinarischer Perspektive ist es nicht sinnvoll, sich für sehr süße Getränke oder auch sehr sahnige zu entscheiden. Aber wenn im Zweifelsfall die Pina Colada glücklich macht, nun denn!“ Prädestiniert für einen Aperitif sind Getränke auf Basis von Vermouth, also mit Auszügen des Wermutkrauts und Thujon, sowie Cinchona auf Basis von Chinarinde, z. B. Tonic oder Lillet. „Diese pflanzlichen Auszüge kennen wir als Heilmittel zur Verdauung seit der Antike. Heute finden sie als Bitterspirituosen Verwendung, wie Kamille oder Fenchelsamen. Auch Gin fällt darunter, mit Wacholder, Angelika- oder Iriswurzel. Wenn man versucht auf ihnen herum zu kauen, sind sie ungenießbar. Kinder verabscheuen beispielsweise naturgemäß alles Bittere, weil es sie vor potenziell Giftigem warnt. Unter medizinischen wie hedonistischen Gesichtspunkten sind diese Pflanzen dafür umso interessanter.“ Spektakulär klingt auch Tills Negroni, den er als Reminiszenz an seine Zeit als Barkeeper in der „La Trattoria Marrakech“ in Marrakesch im marokkanischen Teekännchen serviert: „Das Getränk reagiert mit der Silberlegierung im Inneren, sehr spannend. So dient der Aperitif als Kurzform von Urlaub.“
Haben Sie Nüsschen?
Alkohol macht bekanntermaßen Appetit. Im gesamten Mittelmeerraum kennt man eine ganz eigene Speisekategorie als Begleiter zum Aperitif. „Man denke dabei an die spanischen Tapas, die ‚Deckel‘ zum Getränk. In Italien servieren Bars und Cafés unter anderem gerne Tramezzini und Sandwiches zum Apero. Venezianische Barkeeper servieren die Aperitifs mit Olive im Glas. Aber auch in Ungarn serviert man Salamischeiben zum Aprikosenschnaps und der alpine Raum pflegt seine Affinität zu Milchprodukten und serviert beispielsweise alle möglichen Formen von Käse: als Aufstrich, Mozzarellabällchen oder Splitter vom Hartkäse. Selbst im Nahen Osten, wo nicht unbedingt Alkohol getrunken wird, gibt es eine unglaubliche Nusskultur zum abendlichen Getränk.“
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Deutschland mit seiner reichhaltigen Kultur muss sich dabei nicht verstecken: Im Süden werden beispielsweise Kaminwurzen, eine stark gewürzte Hartwurst oder im Norden Krabbenbrötchen zum Getränk serviert. Dabei spürt man durchaus den Einfluss der jeweiligen Nachbarländer.
Auf die Frage, ob das aktuelle Lied „Wildberry Lillet“ von Nina Chuba Ausdruck einer jungen Aperitifkultur sei, reagiert der Barmann zurückhaltend – man könnte auf den Gedanken kommen, dass er sowohl Getränk als auch Lied ablehnt. Immerhin scheint das In-Getränk auf Basis von Lillet, einem Likör mit Chinarinde, und Berry Tonic, eine sehr süße Waldfrucht-Limonade, durch eine wachsende Omnipräsenz den Rang von Hugo und Aperol Spritz abzulaufen. Beim Stichwort Musik fällt Andreas Till noch ein: „Allerdings ist Musik für die besondere Atmosphäre sehr wohl eine wichtige Komponente dabei, nur nicht mit diesem Song. Ich würde beispielsweise Jazz von Charlie Parker auflegen – positiv und relaxt.“
Artikel-Teaserbild (oben): Pacific Times München