Rund fünf Millionen Kinder leben bundesweit unterhalb der Armutsgrenze. Es gibt gute Gründe, ihre reale Chancengleichheit durch Bildung und damit verbundenen Aufstiegschancen anzuzweifeln. Lebensmittelmagazin.de besucht die erste Arche in Berlin Hellersdorf, die Kindern aus der Armut hilft und oft genug dafür sorgt, wenigstens eine ordentliche Mahlzeit am Tag zu bekommen.
„Essen ist die Basis für alle anderen Aktivitäten”, sagt Wolfgang Büscher, Pressesprecher bei „Die Arche“ Kinderstiftung christliches Kinder- und Jugendwerk. Vor ein paar Wochen hat sich eine Hamburger Schule an den christlichen Verein mit der Bitte um Hilfe gewandt, weil rund 200 Schülerinnen und Schüler regelmäßig ohne Frühstück zum Unterricht kommen. „Da können Sie ab 10 Uhr spätestens keine Konzentration mehr erwarten”, gibt Büscher zu bedenken. Das Frühstücken macht was aus, von einer Potsdamer Schule gibt es die Rückmeldung, seitdem die regelmäßigen Mahlzeiten gewährleistet wären, sei die Gewalt unter Schülern um 20 Prozent zurückgegangen. Überraschendes Detail über die Probleme benachteiligter Kinder an Schulen laut dem Pressesprecher: Ein großer Teil des Mobbings an Schulen käme von Lehrerinnen und Lehrer, die Kinder vor der Klasse bloßstellen.
Es geht um Kinder, die aus Familien stammen, bei denen das Einkommen unter 60 Prozent des durchschnittlichen deutschen Nettoeinkommens liegt. „Wir sagen lieber, aus Familien, die auf vieles verzichten müssen. Die vielleicht nicht essen gehen können, die nicht in den Urlaub fahren. Wir reden hier von fünf Millionen Kindern aus solchen Familien. Das sind rund 30 Prozent aller Kinder. Da können wir von keiner Minderheit reden,” erklärt Büscher.
Anspruchsdenken
Dieses Jahr feiert die Arche 30-jähriges Jubiläum seit Pastor Bernd Siggelkow die Arche mit ihrem ersten Haus hier am Brennpunkt-Standort Berlin Hellersdorf eröffnete. Inzwischen sind es 35 Häuser in der Bundesrepublik, es gibt die Arche aber auch in anderen Ländern wie Tansania. In Berlin gibt es vier Archen, in Spandau, Reinickendorf, Wedding sowie hier in Hellersdorf. Bisher finden in der Arche Hellersdorf an die 180 Kinder aus armen Familien, von Kleinstkindern, Kindergartenkindern, Grundschülerinnn und -schülern sowie Jugendlichen Hilfe und Unterstützung. Gerade wartet eine neue Kindertagesstätte auf dem hiesigen Gelände darauf, von den Behörden abgenommen und dann demnächst eröffnet zu werden.
Das Gebäude ist hell und freundlich und im Geiste sieht und hört man schon Kinder spielen und toben. So schön das Leben in der Kita bald sein wird, weniger schön sind die hinreichenden Gründe für den Bau. Dass es zu wenig Kitaplätze im Land gibt, ist bekannt. Dass für Kinder geflüchteter Familien kein Bedarf bestünde, da die Eltern zur Aufsicht ja anwesend wären, folgt zwar einer bürokratischen Logik, ignoriert aber eben auch die integrativen Möglichkeiten einer Kita – ein Schlüssel in der Migrationsfrage?


Fotos: Die Arche
Mahlzeit!
Es ist früher Mittag, Küchenchef Steffen Michaelis und vier seiner insgesamt sechs Kollegen bereiten die Mahlzeiten für die 180 Kinder hier, sowie weitere 100 Portionen, die zu den anderen Berliner Archen geliefert werden, vor. Morgens bringen sie zu einigen Schulen Frühstück mit Frischkäseschnittchen, Knäckebrot sowie Rohkost und dann und wann auch mal was Süßes. Außerdem wird Montags eine Obdachlosenküche am Kurfürstendamm angeliefert. Michaelis kommt ursprünglich aus der gehobenen Gastronomie, das sieht und riecht man auch an Details wie der Auswahl an Gewürzen; im Salzkartoffelwasser schwimmen ein paar Lorbeerblätter mit. Die buttrigen Erbsen schauen sehr appetitlich aus und im Konvektor brutzeln die Hähnchen-Cordon-Bleus. Es gibt jeden Tag frische bunte Salate und zum Nachtisch gibt es Schokoladen- und Vanillepudding als Duo im Schüsselchen. Dafür werden sie täglich von den Tafeln und Chefs Culinar beliefert.


Fotos: Johannes – lebensmittelmagazin.de
Jetzt gerade ist Ramadan, da kann es bei den älteren, muslimischen Kindern sein, dass sie schon fasten, so dass man in einigen Häusern, wie Frankfurt oder Hamburg, wo die Kinder fast ausschließlich Muslime sind, zur Speiseplanung am besten Rücksprache mit den Erzieherinnen und Erziehern hält. Hier in Hellersdorf haben rund die Hälfte einen Migrationshintergrund aus muslimischen Ländern wie Afghanistan oder Syrien.
Tischkultur
Die Kleinen und ganz Kleinen kommen um 11:30 Uhr zum Essen. Arche-Gründer Bernd Siggelkow ist ebenfalls in den Speiseraum gekommen und wird im nächsten Augenblick von den begeisterten Kindern umrundet, die ihn begrüßen und umarmen wollen. Er kennt alle seine Kinder, unterhält sich mit ihnen, fragt nach und hört ihnen zu. Später gegen 14 Uhr kommen die Kinder aus der Schule, um sich ihr Essen zu holen und die Jugendlichen später am Nachmittag. Gegen 13 Uhr haben angemeldete Eltern die Möglichkeit mit ihren Kindern zusammen hier zu essen. „Wir möchten den Familien beibringen zusammen wieder am Tisch zu sitzen, um zu essen. Denn dies ist der Ort, an dem man miteinander kommuniziert, um zum Beispiel Streit zu tilgen.”


Foto (links): Die Arche
Foto (rechts): Johannes – lebensmittelmagazin.de
Ab und zu bietet die Küche jeweils 13 bis 14 Eltern Kochkurse an, in denen sie zusammen mit den Köchen lernen, ein Drei-Gänge-Menü zu kochen, das erschwinglich, einfach zuzubereiten und saisonal ist. Das kann dann z. B. eine Kürbissuppe, Frikadellen mit Möhrengemüse und zum Nachtisch Rote Grütze sein. Die Zutaten bekommen sie hinterher mit nach Hause gegeben, um sie direkt nachkochen zu können.
Im Keller der Arche findet man zusätzlich zu den Mahlzeiten ein Lebensmittelarsenal, dass für die Kinder zu verabredeten Zeiten mit nach Hause gegeben wird. Ein paar Türen weiter ist eine ordentliche Kleiderkammer. Die Nöte sind eben vielfältig.



Fotos: Johannes – lebensmittelmagazin.de
Die kleinen Kinder holen sich, sofern sie das altersgemäß hinbekommen, ihr Mittagessen und setzen sich zusammen an einen der Tische. Es sind liebenswürdige Kinder, wie man sie überall in Schulen und Kitas sieht, die auf Nachfrage am liebsten Schnitzel mit Pommes oder Spaghetti Bolognese zum Mittagessen genießen.
Jemand, der liebt
Siggelkow sitzt mittendrin und dann sprechen sie zusammen ein Tischgebet. Muslimische Kinder sprechen ein christliches Tischgebet? „Wir sind eine christliche Organisation, die für ihre christlichen Werte steht. Gegenüber den muslimischen Kindern und Jugendlichen haben wir damit auch größere Akzeptanz”, erklärt der Pastor. Über dem Eingang der Arche hängt ein Banner mit Markus 10,14 „Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht”.

Fotos: Johannes – lebensmittelmagazin.de
„Ich wollte kein Pastor für Trauungen und Beerdigungen sein”, begründet er seine Entscheidung vor 30 Jahren die Arche aus der Taufe zu heben. Er hatte guten Grund hierfür, denn er kennt gewissermaßen das Schicksal der Kinder: „Die Mutter ist irgendwann weggegangen, buchstäblich mit Koffern in der Hand aus der Tür. Der Vater wollte keine Kinder und die Großmutter kämpfte jahrelang gegen Krebs. Das war Existenzkampf und Zuhause gab es keine Liebe.” Über den Wunsch, Musiker zu werden und deswegen ein Musikinstrument zu erlernen, kam er auf St. Pauli ausgerechnet als Kind und Jugendlicher zur Heilsarmee. Irgendwann habe ihn der Jugendpfarrer gefragt, ob er denn wüsste, dass es jemanden gibt, der ihn liebt. Siggelkow lächelt: „Das war dann quasi die Geburtsstunde der Arche” – lange vor seinem Studium der Theologie mit Schwerpunkt Jugendarbeit. Die Arche sollte kein Programm für die Kinder werden, sondern ein Ort für Liebe und Beziehung zu den Kindern.
Auf den Hund gekommen
Ein kleiner Junge sitzt am Esstisch und hat sein Gesicht traurig in die Ellenbeuge vergraben. Ob er sich zuvor wohl mit einem Spielkameraden über ein Rennauto gestritten hat oder seine ganz eigenen Sorgen mit sich trägt? Hier in der Arche kann man sich zumindest sicher sein, dass die Erzieherinnen und Erzieher dies nicht ignorieren, beruhigt Pressesprecher Wolfgang Büscher. Pastor Siggelkow und seine Frau trainieren neben ihrer Arbeit für die Arche noch Hunde. Auch diese sind wichtig bei der Arbeit mit Kindern. In Fällen von Missbrauch, nicht nur sexuellem, sondern auch gewalttätigen und bei Vernachlässigung haben die Tiere einen ganz anderen Zugang zu den Kindern.
„Dabei lieben Kinder ausnahmslos ihre Eltern und verteidigen sie auch im Zweifelsfall”, gibt Büscher zu bedenken. „Es sind Familien, die aufgegeben und vergessen wurden und deswegen selber aufgaben und in ihrem Elend auch die Kinder vergaßen. Ein großer Teil davon sind beispielsweise alleinerziehende Mütter. Männer schwängern junge Mädchen und Frauen und machen sich anschließend vor den Frauen, Kindern und der Verantwortung aus dem Staub und überlassen diese sich selbst. Und dann haben diese Frauen keine Perspektive.” Hier bei der Arche finden die Kinder und Jugendlichen unter anderem deswegen auch Hilfe bei der Schwangerschaftsberatung, neben sonstiger medizinischer Versorgung, wie z. B. zahnärztlicher Hilfe. „Das sind Ärztinnen und Ärzte, die neben ihrer regulären Arbeit noch Zeit finden, hier kostenlos zu helfen”, berichtet der Pressesprecher.
Die Mitarbeitenden und vielen tollen Ehrenamtlichen in der Arche helfen und unterstützen die Kinder, um aus dem Armutskarussell aussteigen zu können; über die Hälfte der Kinder schafft einen Schulabschluss und die Arche hilft dann den Kindern gegebenenfalls einen Ausbildungsplatz zu finden. „Die Berliner Stadtreinigung wollte einen Jungen ablehnen, weil dieser eine Zahnlücke hatte, was sie als Verwahrlosung interpretierten. Aber auch für diesen Zahnersatz haben wir dann noch einen Topf gefunden”, bemerkt Büscher.
Deutschlands Armutszeugnis
Im vergangenen Jahr sind in Deutschland 60.000 Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss von der Schule abgegangen, das sind 3.000 mehr als im Jahr zuvor. „Die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt hat ein Bildungssystem, das so schlecht ist wie nie zuvor. Es fehlen 16.000 Lehrerinnen und Lehrer, davon allein 1.000 in Berlin. Das Land der Dichter und Denker verwandelt sich in ein Land der Versager. Wenn der Bundespräsident fordert, 50. bis 60.000 Facharbeiter aus dem Ausland zu holen, können wir nur sagen, die sind bereits hier, sie müssen nur noch ausgebildet werden”, ärgert sich der Pressesprecher.
Die Leiter der Arche fordern die Kindergrundsicherung. Büscher beschreibt ihre Vorstellung davon: „Wir fordern 600 Euro pro Kind. Davon muss die Hälfte direkt in das Schulsystem fließen, für mehr Personal und eine bessere Ausstattung der Schulen. 150 Euro müssten weiter in eine App gehen, von denen das Lehrpersonal Nachhilfe und andere für das Kind notwendige Dinge buchen kann, auch das Budget für Klassenausflüge etwa. Und 150 Euro auf das Konto der Kinder, geschützt vom Zugriff der Eltern.” Denn, so sehen es die Leiter leider auch, wird beispielsweise das Kindergeld oft nicht im Sinne der Kinder, sondern beispielsweise etwa für Zigaretten ausgegeben. Die politischen Verhandlungen über die Kindergrundsicherung sind gegenwärtig aber erstmal gescheitert.
Mit Büchern und prominenter Unterstützung
Und das ist eben auch Teil der Arbeit von Pastor Siggelkow und Wolfgang Büscher und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Neben der Versorgung der Kinder, klären die beiden über das gar nicht so sichtbare Problem der Kinderarmut auf, beispielsweise mit ihren Buchpublikationen, die sich insgesamt über 100.000 Mal bereits verkauft haben, wie zuletzt „Das Verbrechen an unseren Kindern”. Sie laden regelmäßig Politikerinnen und Politiker zu sich ein und schaffen öffentliche Aufmerksamkeit „denn Kinder haben keine Lobby”, wie der Pressesprecher bemerkt.
Hilfe erhalten sie dabei von Arche-Paten: Prominente wie Fußballer Lukas Podolski oder Schauspielerin Claudia Michelsen und viele mehr, engagieren sich für das Projekt, generieren Spendengelder und Aufmerksamkeit für das Problem der Kinderarmut. Viele deutsche Unternehmen engagieren sich großzügig mit ihrer Unterstützung durch Spenden. Aber der Pressesprecher möchte auch besonders die vielen Spenden, ob klein oder groß, der Privatpersonen hier lobend hervorheben: „Die Deutschen sind wirklich großartig in ihrer Bereitschaft uns zu unterstützen und damit die Kinderarmut hier zu bekämpfen.”
Den Erfolg der Arche bekommen sie dafür gelegentlich auch ganz unerwartet gespiegelt. „Ein Mann lächelte mir irgendwann in der U-Bahn zu. Es stellte sich heraus, dass wir früher hier gekickert haben, als er ein Junge war. Er sagte mir: „Ohne die Arche wäre mein Leben kaputt”, erinnert sich Pressesprecher Wolfgang Büscher.
Artikel-Teaserbild (oben): Die Arche